Der Ungnädige
einem so realen Opfer umzugehen. Für mich war das auch nicht unbedingt Routine, aber auf jeden Fall deutlich besser zu ertragen als die üblichen Leichenfunde. In halsbrecherischer Geschwindigkeit rannte ich die Treppe hinunter und benutzte diesmal den direkten Weg durch den Vordereingang, indem ich die Tür aufschloss und gleich offen stehen ließ, damit die Sanitäter schnell ins Haus kamen.
Auf dem Weg durch den Korridor fiel mir noch ein, die Schlüssel aus dem Fernsehzimmer mitzunehmen, vielleicht passte ja einer davon zum Vorhängeschloss von Patricias Kette. Ich lehnte mich durch die Tür und fischte ihn vorsichtig aus dem Bambusregal in der Ecke. Beim Hinausgehen kam mir noch ein Gedanke, und ich kehrte wieder um. Ich drehte die Brille um, und mir stockte der Atem, als ich die schwarz-roten Streifen an den Seiten wiedererkannte. Wenn ich doch nur vorher genauer hingesehen hätte…wären ihr dadurch die 18 Monate Gefangenschaft auch nicht erspart geblieben, rief ich mir ins Bewusstsein. Ich hätte lediglich einen Hinweis darauf gefunden, dass sie irgendwann mal hier gewesen war. Und da ich mir nahezu sicher gewesen war, dass sie nicht mehr lebte, hätte das keinerlei Unterschied gemacht. In dem Moment zog ein Glitzern meinen Blick ins unterste Fach des Eckregals, wo ich das Ende einer filigranen Silberkette erkannte. Vorsichtig zog ich sie heraus und war nicht mehr überrascht, ein mit funkelnden Diamanten besetztes ovales Medaillon zu sehen: Cheyennes Wundertätige Medaille. Ich ließ sie, wo sie war, damit sie zusammen mit den anderen Beweisstücken sichergestellt werden konnte. Mit aufeinandergepressten Zähnen verließ ich den Raum. Ein achtlos weggeworfenes Schmuckstück; einfach entsorgt, so wie das Mädchen.
Wieder zurück am Fuß der Leiter steckte ich die Brille in die eine Jackentasche und die Schlüssel in die andere. Die Wasserflasche unter den Arm geklemmt stieg ich vorsichtig hinauf, um nicht zu stürzen. Es hätte mir so ähnlich gesehen, wenn ich jetzt vor lauter Aufregung gestolpert und wieder im Krankenhaus gelandet wäre.
Liv saß noch genauso da wie vorhin, die Arme um die Knie geschlungen, als wollte sie ganz sichergehen, dass nichts von ihr mit Patricia in Berührung kam. Ich hatte noch nie genauer darüber nachgedacht, dass Liv immer auffallend gepflegt aussah– jeden Tag war sie perfekt gekleidet und frisiert. Vermutlich verwendete sie viel Zeit und Mühe darauf, sich von jeglichem Schmutz fernzuhalten. Und Patricia war alles andere als sauber, was hätte sie auch tun sollen. Ihre Haare waren vom mangelnden Waschen stumpf geworden, und ihre Fingernägel hatten durchweg schwarze Ränder. Als ich in ihre Nähe kam, konnte ich sie riechen, zusätzlich zu dem stinkenden Eimer und dem über Jahre angesammelten Staub überall, der bei jedem Schritt aufwirbelte. Wenn das einzige Wasser, das ihr zur Verfügung gestanden hatte, die Zwei-Liter-Flasche neben ihrer Matratze war, war ihr gar nichts anderes übrig geblieben, als auf Waschen zu verzichten.
Ich ging langsam wieder auf sie zu und blieb ein paar Schritte entfernt von ihr stehen. Sie hatte sich zur Wand gedreht, und ich fragte mich, ob die Gegenwart fremder Menschen sie belastete.
» Hier ist Wasser. « Ich kauerte mich hin und reichte es ihr. Sie griff erst ein paar Mal ins Leere, ehe sie die Flasche zu fassen bekam. Doch als sie sie in den Händen hielt, schnippte sie den Deckel auf und begann gierig zu trinken.
» Lassen Sie sich Zeit « , warnte ich sie. Zu viel Wasser konnte genauso schädlich sein wie zu wenig, soweit ich wusste. Aber sie hörte nicht auf mich, sondern trank einfach weiter, während ihr zwei dünne Rinnsale über das Gesicht und den Hals hinunterliefen.
» Haben Sie Hunger? « Liv stand jetzt neben mir und sah zu ihr hinunter. » Wollen Sie etwas essen? «
» Sie sollte lieber nichts essen, bevor die Sanitäter sie gesehen haben « , murmelte ich.
» Ich hab keinen Hunger. « Sie hielt die Flasche hoch. » Mehr Wasser, bitte. «
» Ob das Leitungswasser hier okay ist? « Liv beugte sich zu ihr und nahm mit spitzen Fingern die Flasche. » Ich könnte schnell runter in die Küche rennen. «
» Ja, dem Bad trau ich nicht über den Weg. Vielleicht ist ja noch was im Wasserkocher. Und mach die Flasche bitte nicht ganz voll. « Das Letzte sagte ich ganz leise, damit Patricia es nicht hörte. Es tat mir schrecklich leid, ihr das Wasser zu rationieren, aber ich wollte vermeiden, dass sie sich selbst schadete.
Weitere Kostenlose Bücher