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Der Ungnädige

Der Ungnädige

Titel: Der Ungnädige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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doch Recht gehabt. Was nicht automatisch hieß, dass er in anderen Dingen auch Recht hatte, wie ich mir schnell in Erinnerung rief.
    Die Adresse, die DI Derwent mir am Telefon gegeben hatte, führte mich zur Flocking Street – zwei ruhigen, heruntergekommenen Reihenhauszeilen – reinen Zweckbauten mit Kieselrauputz und jeweils eigener, billiger Eingangstür. Sie lagen in einem altmodischen, von jeglicher Gentrifizierung verschonten Teil von Brixton. Laut Stadtplan wären es nur ungefähr zehn Minuten zu Fuß von Ivan Tremletts Büro aus gewesen und maximal 15 Minuten von Barry Palmers Haus. Der dritte Punkt dieses Dreiecks definierte für uns ein Einsatzgebiet, das erfreulich klein war, und so näherte ich mich dem Tatort mit einem gewissen Optimismus. Nach der Hausnummer brauchte ich gar nicht erst zu suchen. Die übliche Betriebsamkeit konzentrierte sich auf halber Höhe der Straße: Einsatzfahrzeuge, Streifenwagen, Polizeibeamte in T-Shirts oder Fleecejacken, die Vorgärten durchsuchten, Gullys und Rinnsteine sondierten. Und natürlich herumstehende Anwohner. Die Straße war abgesperrt, sodass die Medien von beiden Straßenenden nicht weiterkamen. Besonders viel war sowieso nicht los, nur ein paar Kameras und einige Journalisten, die sich eifrig Notizen machten. Wahrscheinlich interviewen sie sich gegenseitig, dachte ich gehässig, während ich mich an ihnen vorbeidrängte. Zu unserem Glück hatte bislang niemand einen Zusammenhang zwischen Barry Palmer und Ivan Tremlett hergestellt, aber ich rechnete damit, dass sich jetzt, wo es ein drittes Opfer gab, schon bald ein Schlaumeier finden würde, der die Einzelteile zu einem Ganzen zusammenfügte. Dabei war ein erhöhtes Medieninteresse das Letzte, was wir gebrauchen konnten.
    Ich bahnte mir einen Weg durch die Absperrungen, zeigte hier und da meinen Ausweis vor und fand mich schließlich in dem engen Eingang der Wohnung wieder– zeitgleich mit Derwent, der gerade aus der anderen Richtung eintraf. Als er mich sah, breitete er die Arme aus, als wollte er mich umarmen. Ich erstarrte, aber er blieb knapp vor mir stehen. Aus der Nähe betrachtet wurde klar, dass sein Lächeln nicht als Willkommensgruß gemeint war. Und falls ich in dem Moment noch immer im Zweifel über seine Laune gewesen wäre, hätten seine ersten Worte diesen umgehend ausgeräumt.
    » Wurde auch verdammt Zeit. Besonders eilig haben Sie es ja nicht gehabt. «
    Ich sagte nichts. Eigentlich war ich in Rekordzeit da gewesen, weil ich mit einem Kollegen, dem ich zufällig im Gericht über den Weg gelaufen war, mitfahren konnte. Er war von einem Zivilwagen der Extraklasse abgeholt worden, und der Fahrer hatte es sich nicht nehmen lassen, uns dessen Leistung zu demonstrieren– unbeeindruckt vom Londoner Verkehr.
    » Wo ist die Leiche? «
    » Schlafzimmer. «
    Wie als Antwort flammte in dem Zimmer am Ende des schmalen Flurs ein Kamerablitz auf.
    » Ah, dahinten, hab’s schon. « Ich schaute mich um und sah einen fleckigen Teppich und Blümchentapete, die zweifellos den Achtzigerjahren zuzuordnen war. Neben der Tür war ein kleines Gefäß mit einem Schwamm darin an der Wand angebracht. Weihwasser, wie ich verblüfft feststellte, als ich hineinspähte und sah, dass der Schwamm triefnass war. Offenbar war er in regelmäßigem Gebrauch.
    » Was ist das da? « Derwent nickte in Richtung des Gefäßes.
    » Das hängt da, damit man sich beim Kommen oder Gehen mit Weihwasser bekreuzigen kann. «
    » Soll das Glück bringen? Scheint ja nicht so richtig zu funktionieren. Jedenfalls nicht für diesen armen Schlucker da. «
    » Das ist kein Glücksbringer, sondern was Religiöses. « Mein Ton war etwas schnippischer gewesen als nötig. Ich sah das Funkeln in Derwents Augen, als er registrierte, dass er mir auf den Schlips getreten war. Aber im Haus meiner Großmutter in Irland hatte es auch so ein Weihwassergefäß gegeben, und ich hatte das Ritual gemocht, mich jedes Mal, wenn ich daran vorbeikam, auf der Türschwelle zu bekreuzigen. Das billige, weiße Plastikgefäß, das schief vor mir an einem Nagel hing, hatte mich daran erinnert, obwohl das meiner Großmutter aus Porzellan gewesen war, mit einem aufgemalten goldenen Kreuz– ein sehr in Ehren gehaltenes Andenken an eine Gemeindewallfahrt nach Lourdes. Ich erinnerte mich, dass ich mich auf die Zehen stellen musste, um es zu erreichen. Das kalte Wasser an meinen Fingerspitzen und auf meiner Stirn. Ihr anerkennender Gesichtsausdruck. Es war eine unschuldige

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