Der Ungnädige
70 war, wirkte sie noch recht agil, und ihren blassen, leicht wässrigen Augen entging garantiert nichts. Wie angekündigt war sie ausgesprochen redselig, aber in ihrer eigensinnigen Art auch durchaus unterhaltsam. Noch ehe ich ihr auch nur eine einzige Frage stellen konnte, erfuhr ich alle Einzelheiten über die Nachbarn des ehemaligen Priesters und über Familie Loughlin, der die Wohnung gehörte, in der er gelebt hatte.
Ihr Wohnzimmer war makellos aufgeräumt, und ich erkannte die gleiche kompromisslose Einstellung in Sachen Staub, die mir schon in der Wohnung des Opfers aufgefallen war– sämtliche Oberflächen waren buchstäblich auf Hochglanz poliert. Der Raum wurde dominiert von einer riesigen dreiteiligen Polstergarnitur mit üppigem Blumenmuster, und den verbliebenen Platz nahm ein gigantischer Flachbildfernseher ein. Die Vorhänge waren aus dem gleichen Stoff genäht wie Sofa und Sessel und mit kunstvollen, perlenbesetzten Quastenkordeln zurückgebunden. Der Teppich war bordeauxrot, ebenso wie die Sockel- und Fußbodenleisten, und die goldfarbene Tapete hatte ein geschwungenes, ebenfalls bordeauxrotes Muster. Das wirkte zwar war ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber gar nicht mal ungemütlich– wenn der Raum nicht so extrem überheizt gewesen wäre. An einem sonnigen Frühlingstag, an dem die uniformierten Kollegen schon ohne Jacke unterwegs waren, wurde hier mit zwei Heizkörpern und einem offenen Kamin geheizt. Ich setzte mich so weit weg von der Wärmequelle wie möglich und trank einen Schluck aus dem Wasserglas, das Mrs. Driscoll mir hingestellt hatte. Ich zwang mich, es mir gut einzuteilen, während sich auf meiner Oberlippe Schweißperlen bildeten und mir die ersten Tröpfchen den Rücken hinunterliefen.
Überall waren Familienfotos aufgestellt, die ich gründlich betrachtete, während Mrs. Driscoll draußen war und Wasser holte. Den Ehrenplatz nahmen vier in Leder gerahmte Bilder von jungen Leuten beim Studienabschluss ein– drei Männer und eine Frau mit dem typischen Doktorhut auf dem Kopf. Sie standen ziemlich verkrampft da, hielten jeweils eine Schriftrolle in den Händen und hatten allesamt das gleiche verlegene Grinsen im Gesicht. Nach Haaren und Kleidung zu urteilen, stammten die Bilder aus der Mitte der Neunzigerjahre. Dieselben Personen waren auch auf diversen Hochzeitsbildern zu sehen, die etwas abseits in einem niedrigen Bücherregal standen und so angeordnet waren, dass die jeweiligen Ehepartner mehr oder weniger verdeckt wurden. Ein ähnliches Schicksal teilte die arme Abby im Wohnzimmer meiner Eltern. Demnächst würde sie wahrscheinlich in eine Schublade verbannt werden, dachte ich, als mir schlagartig die Probleme meines Bruders wieder einfielen. Aus den zahllosen Fotos von Babys und Kindern jeglichen Alters, die dem Betrachter rosig entgegenlächelten, schloss ich, dass die Kinder von Mrs. Driscoll für eine reiche Enkelschar gesorgt hatten. Aber darauf sprach ich sie lieber nicht an, denn dann wären wir vermutlich nie zum eigentlichen Thema gekommen. Außerdem war es bei ihr ganz und gar überflüssig, sie aus der Reserve zu locken. Überaus bereitwillig gab sie Auskunft über den Toten und hatte nur Gutes über ihn zu berichten, » nun, da er nicht mehr unter uns ist, möge er in Frieden ruhen und der Herr seiner Seele gnädig sein. Amen. «
» Amen « , antwortete ich. » Sie wussten also davon, dass er wegen Kindesmissbrauch vorbestraft war? «
» Natürlich wusste ich das. Aber das war doch alles erstunken und erlogen. Der Arme– Gott hab ihn selig– war ja so ein herzensguter Mensch. Nie im Leben hätte er jemandem widersprochen. Lieber hat er die Anschuldigungen hingenommen, als den Burschen vorzuwerfen, dass sie gelogen haben. Er hat immer zu mir gesagt: ›Mary, eigentlich stimmt das ja alles. Ich war dabei, wenn sie sich im Haus gewaschen haben, aber doch nur um aufzupassen, dass sie sich auch wirklich reinigen und keinen Unsinn machen. Ich hatte nichts Böses im Sinn.‹ «
» Aber was ihm vorgeworfen wurde, hat tatsächlich so stattgefunden. «
Sie wedelte mit dem Finger vor meinem Gesicht herum. » Sie müssen wissen, dass das ganz bedauernswerte Knaben waren, die sonst nie warmes Wasser gesehen haben. Die starrten vor Dreck und waren voller Läuse und Gott weiß, was noch. Pater Fintan hat ihre Kleidung gewaschen und ihnen die Möglichkeit gegeben, sich zu säubern, damit sie wieder ein bisschen Selbstachtung finden. Aber man konnte sie keine Sekunde aus
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