Der Unsichtbare Feind
rief sie Azrhan an, um ihn vorzuwarnen, dass sie sich beide am Montag für alle Routinearbeiten bereitmachen mussten.
»Das geht klar, Dr. Sullivan. Brauchen Sie mich dieses Wochenende, um fertig zu werden?« Sein Ton blieb vollkommen neutral, wie immer seit ihrer Konfrontation vor vier Tagen.
»Danke, Azrhan, ich könnte Ihre Hilfe morgen bestimmt sehr gut gebrauchen.« Ihre Antwort war so glatt wie Glas, aber insgeheim fragte sie sich, ob ihre Beziehung jemals wieder so wie früher sein würde.
Während sie Steeles Handynummer wählte, ertappte sie sich, dass sie sich auf seine Reaktion freute. Sie nahm an, dass seine Aufregung genau so groß wie ihre eigene sein würde.
»Der Anschluss, den Sie gewählt haben, ist zur Zeit leider nicht erreichbar. Sie können jedoch eine Nachricht hinterlassen«, intonierte eine Computerstimme.
»Mist!«, rief sie laut aus und bemerkte dann, dass sie ihre Enttäuschung, ihn nicht zu erreichen, aufgezeichnet hatte. »Entschuldigung, Richard. Ich kann schon wieder die Klappe nicht halten. Bitte rufen Sie mich zurück. Ich habe tolle Neuigkeiten.«
Sie machte sich auch ein wenig Sorgen. Er hatte ihr gesagt, dass er heute zu Agrenomics fahren wollte, in der Hoffnung, einige der Angestellten dazu zu bringen, mit ihm zu reden. Sie hatte noch im Ohr, wie er sagte: »Ich werde mit ihnen zu Mittag essen. Was kann mir schon passieren außer einer Magenverstimmung, weil ich mit einem schmierigen Löffel gegessen habe?« Sie bekam selbst ein ungutes Gefühl im Magen, als sie sich vorstellte, dass er den falschen Leuten die falschen Fragen stellen könnte.
Sie rief bei ihm zu Hause an.
»Ach, Sie sind es, Dr. Sullivan«, begrüßte sie Martha mit enttäuschter Stimme, so als ob sie jemand anderen erwartet hätte.
»Ist Richard schon zurück?«
»Er hat mich heute Nachmittag angerufen und gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll, aber es hätte sich etwas ergeben, und er würde erst sehr spät nach Hause kommen. Ich dachte, dass er es ist, der anruft. Soll ich ihm sagen, dass er Sie zurückrufen soll?«
»Ja, bitte, sobald er kommt. Lassen Sie ihn wissen, dass ich die ganze Nacht im Labor erreichbar bin.«
»Ist es etwas Ernstes?«, fragte Martha.
»Nein, überhaupt nicht.«
Das Schweigen in der Leitung verriet, dass sie nicht beruhigt war. »Dieser Mann! Sagt mir, dass ich mir keine Sorgen machen soll«, grummelte sie nach ein paar Sekunden.
»Ich bin mir sicher, dass es ihm gut geht, Martha.«
Ein verärgertes Seufzen kam durch die Leitung. »Darum wollen wir beten. Und vielen Dank, Dr. Sullivan. Ich werde ihm ausrichten, dass Sie angerufen haben.«
Also, wo bist du jetzt wieder hineingeraten, Richard? Sie ärgerte sich, nachdem sie aufgelegt hatte. Gedankenverloren sah sie aus dem Fenster, wo das Licht der sinkenden Sonne sich zu einer dünnen, feurigen Linie zusammengezogen hatte, die im Norden mächtig aufgequollene, purpurne und schwarze Gewitterwolken durchbohrte, als ob eine flammende Lanze in ihr Innerstes geschleudert worden wäre. Wo sie eingedrungen war, flackerten weiße Blitze, als hätten sie einen himmlischen Kurzschluss verursacht, und hoch aufragende Wolkentürme, die am Rand in silbergrauen und goldenen Tönen glühten, ähnelten Blasen aus flüssigem Eisen in der Esse einer Schmiede.
Wenn du noch da draußen bist, dachte sie, dann hoffe ich, dass du wenigstens Schutz vor dem Sturm gefunden hast.
15
Mit Regen hatte er nicht gerechnet.
Die Tropfen rannen ihm über das Gesicht und in die Augen. Es war ihm fast unmöglich, etwas zu sehen, als er sich hinkniete und in der Dunkelheit versuchte, den Zaun mit einer Drahtschere durchzuschneiden. Der Draht erwies sich als viel dicker, als er angenommen hatte, und bei jedem Schnitt, den er zu machen versuchte, entglitten ihm die Griffe der Schere. Er konnte auch nicht aufhören zu zittern. Trotz der körperlichen Anstrengung führte die gemeinsame Wirkung von Wind und nasser Kleidung zum Verlust an Körperwärme.
»Scheiße!«, fluchte er, als ihm die Schere wieder einmal entglitt. Er fühlte sich von Sekunde zu Sekunde erbärmlicher.
Am Nachmittag hatte er es für eine wirklich gute Idee gehalten. Er war zu seinem Wagen zurückgekehrt und hatte sich entschlossen, herauszufinden, was sich unter der Metallklappe befand. Wie geplant, fuhr er zu dem Rangierbahnhof, aber auf dem Weg dorthin entdeckte er einen Laden für landwirtschaftlichen Bedarf. Dort kaufte er eine kräftige Drahtschere, eine Brechstange und
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