Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Unsichtbare Feind

Titel: Der Unsichtbare Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
beging er einen furchtbaren Betrug, jedenfalls beurteilte er selbst es so. Er ließ Chet im Stich, als der Junge ihn am nötigsten brauchte.
    »Arzt, hilf dir selbst«, wiederholte er mit zusammengebissenen Zähnen, und ein bekannter, bitterer Abscheu, den kein Kardiologe heilen konnte, senkte sich in sein Herz.
    Als Steele an diesem Abend erwachte, saß da Chet auf einem Stuhl, der vorher nicht da gewesen war. Der Junge balancierte ein Buch auf einem Knie, während er mit dem anderen das Ringbuch abstützte, in dem er schrieb.
    Er macht seine Hausaufgaben, dachte Steele. Mit halb geschlossenen Augen musterte er seinen Sohn, der so sehr Luana ähnelte. All die Nächte, in denen er in das Zimmer des Jungen gesehen hatte, eine rituelle Pflicht, gingen ihm durch den Kopf, bis zurück zu Chets erstem Schultag, der zu einem Meilenstein der Vergangenheit wurde. Daran fügten sich Erinnerungsfetzen aus der Kindheit des Jungen und drehten sich im Kreise, bis der Wirbel der Bilder alles, was er mit Luana verloren hatte und mit Chet noch verlieren konnte, in einem einzigen, Schwindel erregenden Panorama zusammendrängte, das an ihm vorbeirauschte. Schweiß brach ihm aus. Hätte ich das alles nicht durchmachen müssen, als ich im Sterben lag?, fragte er sich und versuchte, die Vergangenheit aus seinem Kopf zu verjagen. Aber die Gegenwart seines Sohnes machte das unmöglich.
    Obwohl Chet bereits einige Wachstumsschübe hinter sich gebracht hatte, wirkte er auf eine gewisse Weise immer noch klein – sein lockiges, schwarzes Haar, das so sehr ihrem glich, war nicht weniger widerspenstig als damals, als sie noch da war, um es zu bürsten. Er hatte auch dieselbe Gesichtsfarbe wie seine Mutter – eine Farbe, die sich mit dem Licht zu verändern schien –, zart wie Porzellan im Winter und kräftig durch das Gold der Sonne im Sommer. Aber am meisten hatte ihn immer die Ähnlichkeit ihrer Augen erstaunt. Der Schwung ihrer Augenbrauen und das tiefe Braun ihrer Augen waren sich so ähnlich, dass er manchmal schwören konnte, dass sie ihn durch Chets Augen ansah.
    »Hallo, Sohnemann«, sagte er ruhig.
    Der Junge zuckte erschreckt zusammen. Einen Augenblick lang überflog sein Gesicht tatsächlich die Freude, die Stimme seines Vaters zu hören. Dieser Ausdruck verschwand aber schnell und wurde durch die vorwurfsvolle, finstere Miene ersetzt, die inzwischen eher sein natürlicher Gesichtsausdruck geworden war. »Hallo, Dad«, erwiderte er, wobei seine Worte einem nervösen Zirpen ähnelten.
    »Ich bin froh, dich hier zu sehen«, fuhr Steele fort.
    Schweigen.
    »Wie spät ist es eigentlich?« In der uhrenlosen Welt der Herzintensivstation hätte es, soweit Steele wusste, genauso gut drei Uhr nachts wie nachmittags sein können.
    »Ungefähr sieben.«
    »Wo ist Martha?«
    »Sie ist etwas essen gegangen unten in der Cafeteria.«
    Martha McDonald war ihre Haushälterin, die auch bei ihnen wohnte. Seit Chets Geburt hatte sie immer auf die eine oder andere Weise dabei geholfen, sich um ihn zu kümmern. Als Luana starb, hätten weder Chet noch Steele ohne sie überlebt.
    »Hast du schon gegessen?«
    »Noch nicht. Ich esse etwas, wenn sie fertig ist.«
    »Es ist schon spät für dein Abendessen, nicht?«
    Der Junge zuckte mit den Achseln und widmete sich wieder seinen Büchern.
    Was fühlt er jetzt?, fragte sich Steele. Hat er Angst, dass ich ihm wegsterbe, genau wie seine Mutter? Natürlich. Gott, ich habe ihn fast zum Waisen gemacht. Und wie der Vater, so der Sohn; er ist durch ihren Tod innerlich immer noch genauso aufgewühlt und zerrissen wie ich. Schließlich ist er noch ein Kind. Wie könnte er sich anders fühlen. Wach auf, Daddy!
    Während er sich darauf konzentrierte, was er sagen sollte, um Chets gegenwärtige Ängste zu lindern, rollte ihm ein altes, unwillkommenes Rätsel durch den Kopf. Was wäre, wenn ich selbst vor, während und nach Luanas Tod besser klar gekommen wäre? Würde Chet es jetzt vielleicht als weniger schmerzlich empfinden? Habe ich auch meinen eigenen Sohn zu einer verlängerten Trauer verurteilt?
    »Weißt du, Chet, mein Herz kommt wahrscheinlich wieder ganz in Ordnung«, sagte er zögernd, und er war sich keineswegs sicher, dass er ihm überhaupt noch irgendwie irgendeine Sicherheit vermitteln konnte.
    Der Junge sah nicht auf, aber sein Füller stoppte mitten in der Bewegung.
    Er hat Interesse, dachte Steele und hoffte, dass er dieses Mal die richtigen Worte finden würde. »Tatsächlich werde ich schon in

Weitere Kostenlose Bücher