Der Unsichtbare Feind
sich zu melden.
Nachdem er die 911 angerufen hatte, rannte Steele aus dem Schlafzimmer und sah über den Rand des Balkons. Verzweifelt suchte er einen Weg hinunter zum Meer. Ein Stockwerk unter ihm und gut 15 Meter weiter links entdeckte er Stufen, die von einem kleinen Garten aus die Klippen hinunterführten. Ohne sich damit aufzuhalten, sich etwas anzuziehen, lief er zurück ins Haus, hastete hinunter ins Erdgeschoss und entdeckte eine weitere Glastür, die sich auf eine Fläche öffnete, die einmal der Spielplatz ihres Sohnes gewesen sein musste. In Sekunden erreichte er die steinerne Treppe, die er von oben gesehen hatte, und rannte hinunter, wobei er verzweifelt im brodelnden Wasser nach einer Spur von Sandra suchte. Sobald der Mond zwischen den Wolken hervorkam, sah er die weiße Brandung, die sich an schwarzen Korallenstöcken mitten im schäumenden Wasser brach. Vielleicht ist sie in ein tiefes Tidebecken gefallen, betete er, aber als er die donnernden Brecher und das schäumende Wasser sah, verlor er jede Hoffnung.
Er erreichte eine kleine Bucht, kletterte über die Felsen und schnitt sich dabei Handflächen und Fußsohlen auf, schenkte dem aber keine Beachtung, »Sandra!«, schrie er und konnte sich doch selbst kaum durch das Brüllen des Ozeans hören. Von Zeit zu Zeit schwoll das Meer weit, genug an, um ihn zu überspülen, und er musste sich an stacheligen Vorsprüngen festhalten, während das Wasser in die See zurückströmte und ihn mit sich hinauszuziehen drohte. Einmal verlor er den Halt und wurde mit hinausgespült, bis ein ankommender Brecher ihn wieder an die Küste schleuderte. Es gelang ihm, die Beine nach vorn zu strecken, um den Aufprall auf die zackigen Felsen, die ihn dort erwarteten, abzumildern; dann schrie er auf, als er mit voller Körperlänge über die Vorsprünge schrammte und in flacherem Wasser landete.
Mit Mühe kam er wieder auf die Füße und befand sich auf einem flachen Felsvorsprung, den die Brandung nur gelegentlich erreichte. Er spähte in den Mahlstrom um sich herum und versuchte vergeblich, eine Spur von Sandra zu entdecken. Er wollte schon aufgeben, als er etwas entdeckte, das wie ein Büschel Seetang aussah, das sich in einem Tidebecken gefangen hatte. Eine Welle teilte die schwarzen Strähnen und enthüllte die weißen Rundungen ihres Gesichts und ihrer Brüste. Sie trieb auf dem Rücken und starrte aus leblosen Augen in die Sterne.
In Sekunden war er bei ihr, barg ihren Kopf in seinem Arm und bedeckte ihre kalten Lippen mit den seinen, um Luft in ihre Lungen zu blasen. Aber kaum hatte er damit begonnen, als er spürte, wie sein Arm von einer Art Schlamm bedeckt wurde. Zuerst glaubte er, dass es irgendein Schmutz war, vielleicht aus einem Abflussrohr. Dann begriff er, dass die Masse die Konsistenz von Zahnpasta hatte, die aus der Tube quoll, und dass sie hinten aus ihrem Schädel floss.
Sofort zog er sich auf seine gewohnte, routinierte Technik zurück und blies ihr zweimal Luft in die Lunge, gefolgt von 15 Druckstößen auf die Brust – exakt so, wie er es immer seinen Assistenzärzten beigebracht hatte, wenn sie allein Wiederbelebungsmaßnahmen durchführen mussten, anstatt sich der Wirklichkeit zu stellen, dass ihre Lungen niemals wieder Luft brauchen würden.
Und so fanden ihn die Sanitäter, die Polizei und die Medien, die sie begleiteten – nackt, damit beschäftigt, methodisch Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen, und von Kopf bis Fuß aus Schürfwunden blutend.
10
Seine Geschichte hätte normalerweise nur lokal den Appetit bei denjenigen angeregt, die eine Vorliebe für das Unheimliche haben. Aber da er am Vorabend in den Fernsehsendern des ganzen Landes erschienen war und zur Kontrolle nackter DNA aufgerufen hatte, stürzten sich sämtliche Medien auf die Tragödie. Bis Mittag hawaiianischer Zeit war er zur abendlichen Topmeldung aller wichtigen Nachrichtensendungen an der Ostküste geworden. Bilder von ihm, wie er in eine Decke gehüllt, mit benommenem Blick und immer noch von Blut verschmiert, zu einem Polizeiwagen geführt wurde, füllten die Bildschirme über vier Zeitzonen, während die Kommentatoren ominöse Schlagzeilen verlasen.
»Dr. Richard Steele, der sich erst gestern als entschiedener Kritiker nackter DNA gezeigt hat, wurde heute frühmorgens nackt im Liebesnest einer Selbstmörderin entdeckt.«
»Die nackte Wahrheit! DNA-Experte wird wegen Selbstmord einer Ärztin verhört.«
»Vom Triumph zur Tragödie: Die Glaubwürdigkeit des
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