Der unsichtbare Feind (German Edition)
befahl, sich schneller zu bewegen.
Wieder sah sie sich um. Und
tatsächlich, zu ihrer Linken, in einem kleinen Park hinter einer
Eichenformation, deren Blätter im lauen Wind raschelten, bewegte sich etwas.
Tanja verharrte in der Bewegung, unfähig den Blick davon zu nehmen. Auch die
Gestalt blieb stehen und mit ihr verstummten die Geräusche.
Tanja war wie gelähmt,
konnte kaum noch atmen. Hilflos sah sie der Gestalt zu, wie sie hinter den
Bäumen hervortrat und sich über einen flachen, in den Boden eingelassenen
Scheinwerfer, der normalerweise eine dahinterliegende Büste ausleuchtete,
bewegte und in dessen Lichtkegel verharrte. Tanja sah nun die klaren Konturen
eines groß gewachsenen Mannes mit knöchellangem, schwarzen Mantel und
breitkrempigem Hut. Zwei funkelnde Augen starrte sie aus einem pechschwarzen
Gesicht an. Dann hob der Mann langsam seinen Arm und deutete mit dem
Zeigefinger auf Tanja, die immer noch wie angewurzelt dastand. Es schien ihm
auf eine perverse Art Spaß zu machen, mit ihr zu spielen.
Plötzlich, wie von der
Tarantel gestochen, lief der Mann los. Tanjas Augen weiteten sich vor Entsetzen,
als sie begriff, dass er direkt auf sie zusteuerte.
Sie stieß einen lauten
Schrei aus, fuhr herum und lief. Ihre Füße bewegten sich so schnell, dass sie
beinahe darüber gestolpert wäre. Außer ihrem Verfolger und ihr war niemand weit
und breit.
An der nahegelegenen
Kreuzung entschloss sie sich, rechts abzubiegen. Verzweiflung stieg in ihr
hoch, als sie sah, dass der Abstand zwischen ihrem Verfolger und ihr von
Sekunde zu Sekunde schmolz. Pfeilschnell schoss sein athletischer Körper wie
eine Dampflok auf sie zu. Ihr Blick suchte das Gelände vor ihr ab. Fünfzig
Meter vor Tanja lag die nächste Kreuzung, vielleicht würde sie hier Hilfe
finden. Sie aktivierte ihre letzten Kraftreserven und sprintete um die Ecke,
doch es war bereits zu spät. Ohne nach hinten sehen zu müssen, wusste sie, dass
er sie eingeholt hatte. Er streckte seine Klauen nach ihr aus. Mit den
Fingerspitzen konnte er sie bereits berühren. Sie spürte seinen Atem im Nacken,
als er sie am Kragen ihrer Baumwollweste zu fassen bekam. Ihr Lauf stoppte
abrupt. Die Nähte der Weste gaben nach und rissen, aber da hatte sie bereits
den Boden unter den Füßen verloren. Unbeeindruckt griff der Mann nach und
packte sie am Genick. Mit einer schnellen Bewegung drehte er sie auf den Rücken
und drückte sie zu Boden. Wie ein Schraubstock legte er seine Finger um ihren
Hals. Unfähig Luft zu holen, verzerrten sich ihre Gesichtszüge zu einem
einzigen stillen Todesschrei.
Der Mann drückte sie brutal
gegen den Asphalt, während er mit seiner freien Hand unter den Mantel griff.
Tanjas Lungen brannten wie
Feuer. Hilflos schlug sie um sich, aber es schien vergebens. Als alle Hoffnung
verloren schien und sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatte, streifte ihr
Blick die Handtasche, die hinter ihr auf dem Gehsteig lag.
Noch einmal fasste sie allen
Mut zusammen und streckte sich so weit sie konnte der Tasche entgegen. Mit den
Fingerspitzen gelang es ihr, den Riemen zu fassen. So fest sie konnte,
schleuderte sie die Tasche ihrem Peiniger an den Kopf. Er verlor den Halt und taumelte
nach hinten. Sein Stetson löste sich vom Kopf und enthüllte einen wahren Albtraum.
Das Haupt, teils kahl geschoren, teils Narbengewebe, glänzte wie eine
Kraterlandschaft im Mondschein. Eine ausgefranste Narbe verlief an seiner
linken Gesichtsseite von der Stirn, über das Auge, bis zum Hals, ehe sie knapp
neben der Schlagader in faltige Haut verlief. Fleischige, blutunterlaufene
Lippen hoben sich von der grauen Farbe seines Gesichtes ab. Dunkle Ringe
umrahmten seine Augen, die im Halbdunkel der Straße wie zwei leere schwarze
Löcher wirkten.
Sein Blick war voll
Entschlossenheit und ihr wurde schlagartig bewusst, dass er vor nichts haltmachen
würde.
Jeder, der sich ihm in den
Weg stellte, würde mit seinem Leben dafür bezahlen.
Diesmal wusste es Tanja
besser. Sofort sprintete sie los, gab ihm keine zweite Chance zuzufassen. Sie
wusste, dass er schneller war, als sie und sie wusste auch, dass sie nicht viel
Zeit gewonnen hatte. Also versuchte sie erst gar nicht davonzulaufen. Bei der nächsten
Einfahrt zog sie den, in eine Vollholztür eingelassenen, Öffner. Begleitet von
einem rostigen Quietschen drückte sie die massive Tür auf. Wieder sah sie ihren
Verfolger um die Ecke sprinten. Ihr Vorsprung war knapp, aber es konnte reichen,
um ein Versteck zu finden.
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