Der unsichtbare Feind (German Edition)
über das Terrain schweifen.
Die Dachkante war etwa zehn
Meter entfernt. Die Balustrade war an einer Stelle unterbrochen, an der eine
Feuerleiter in die Tiefe ragte.
Als hätte ihn der Blitz
getroffen, sprang er, ohne zurückzusehen, auf und rannte so schnell er konnte
los. Es dauerte nur Bruchteile einer Sekunde, bis sich neben ihm das erste
Geschoß mit einem metallenen Geräusch in das Blech des Daches bohrte. Als nehme
er davon keine Notiz, rannte Stark unvermindert weiter. Vor ihm lag die
Feuerleiter, die die Balustrade unterbrach und er steuerte geradewegs darauf
zu.
Immer mehr Geschosse
platschten um ihn herum in Stein und Metall, während immer mehr Polizisten der
Spezialeinheit aus ihrem Nebelversteck hasteten und den Lauf ihrer STG 77
Sturmgewehre auf ihn richteten.
Wenige Meter trennten Stark
von der Dachkante, die in die Tiefe führt. Stark biss die Zähne fest zusammen
und lief weiter auf den Abgrund zu. Als er an der Kante angekommen war, setzte er
einen Fuß auf die erste Sprosse der Feuerleiter und drückte sich mit aller
Kraft ab. Ungebremst strampelte er durch die Lüfte, als wären seine Füße
Flügel, die ihm zum Dach des drei Meter entfernten Nebengebäudes tragen könnten.
Unter ihm nichts als harter Asphalt.
Kapitel 15
Als die grün umrahmten
Glastüren lautlos zur Seite glitten, stolperte der Mann wie ferngesteuert in das
Gebäude mit der Aufschrift „Wiener allgemeines Krankenhaus“. Schweiß stand ihm
auf der Stirn, sein Gewand war klitschnass. Orientierungslos lief er in
Schlangenlinien den Gang entlang, während er grunzende Geräusche von sich gab.
Ein Mann mit Altersflecken und weißem, dünnen Haar, dessen abgemagerter Körper
nur von einem Krankenhauskittel, am Rücken zugeschnürt, bedeckt war, drehte
sich zu ihm um. Mit seiner rechten Hand umkrampfte er einen Infusionsständer,
an dem ein Beutel transparenter Flüssigkeit hing, der über einen Schlauch mit
der Vene an seinem Unterarm verbunden war. Der Mann schüttelte genervt den Kopf
und zischte: „Der ist ja sternhagelvoll!“
In der Ambulanz für
Unfallchirurgie torkelte er zu einer älteren Dame mit langem Haar, das sie zu
einem Zopf zusammengebunden trug: „Bitte“, röchelte er, „Bitte!“
Seine Stimme versagte ihm
kläglich.
Die Frau stand auf und ging
angewidert rücklings an das gegenüberliegende Ende des Warteraumes. Für einen
kurzen Moment hielt sie inne und krächzte: „Es tut mir leid, aber ich bin alt.
Ich darf mich nicht anstecken. Das verstehen Sie doch sicher.“
Sie drehte ihm den Rücken zu
und humpelte, auf einem Stock gestützt, davon.
Erschöpft lehnte er sich
gegen einen Ständer, in dem Broschüren für Krebsvorsorgeuntersuchungen steckten.
Ein Mann in seinen
Dreißigern mit rotem gelocktem Haar und Sommersprossen seufzte tief, stand auf
und stützte den erschöpften Mann. Mit einer flüssigen Bewegung hievte er ihn
auf einen der freien Stühle im Warteraum.
„Hallo Sie, geht es Ihnen
gut?“
Mit halb geöffneten Augen
sah ihn der Mann an: „Hilfe … kann … nicht … atmen“, brachte er unter größten
Anstrengungen hervor, dann wischte er sich mit bloßer Hand über die
Schweißnasse, von Mischhaut geprägte, Stirn. Der alte Mann, der gut und gerne
sechzig Jahre alt war, sah schwer gezeichnet aus. Dunkle Ringe umrahmten seine
müden Augen, Speichel trat ihm aus den Mundwinkeln. Seine zittrigen Hände legte
er auf seinem Schoß ab.
Der Wartesaal war, wie an so
vielen Tagen, gesteckt voll. Patienten mit Gipsbeinen humpelten auf Krücken
gestützt zur Anmeldung, während sich andere, mit Verbänden über den Augen, an
einen freien Sitz herantasteten. Das Husten und Röcheln der Patienten übertönte
beinahe das Schnattern der Leute, die bereits auf dem Weg der Besserung waren.
Begleitet von einem hohen
Pfeifen sog der Mann angestrengt Luft durch seine spitze Nase.
„Halten Sie durch“, bat sich
der rot gelockte Mann aus, „ich werde Ihnen Hilfe holen!“
Zielstrebig lief der Mann an
einem kraushaarigen Jungen vorbei, der seinem Sitznachbar stolz schilderte, wie
er sich das Bein gebrochen hatte und dabei wild gestikulierte, zu einer
verglasten Wand mit einer kleinen Sprechöffnung in der Mitte. Dahinter saß eine
weiß gekleidete junge Frau. Über der Verglasung war in großen Lettern
„Anmeldung“ zu lesen.
Der Mann drängte sich in der
immer länger werdenden Schlange, nach vor bis zu der jungen Frau, die
genüsslich an einem Kaugummi kaute: „Hören Sie!“, zischte
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