Der unsichtbare Feind (German Edition)
Kreuzung
verlangsamte sie ihr Tempo. Als Tanja aufblickte, ließ sie die Angst, die ihr
durch Mark und Bein fuhr, zu einer Salzsäule erstarren. Ihr Herz schlug wie
wild. Mit offenem Mund heftete sie ihren Blick ungewollt an eine schwarze Gestalt,
die auf der anderen Seite der Straße stand und ihr den Weg zum Schwedenplatz
versperrte.
„Der schwarze Mann“,
flüsterte sie leise.
Ein lähmendes Gefühl der
Resignation kroch in ihr hoch. Die Erinnerungen an den Vorabend ließen sie
erstarren.
Tanja fuhr herum, als sie
eine Hand auf ihren Rücken spürte, im Wissen einen Polizisten in die Falle
gegangen zu sein. Schützend hielt sie die Arme vor ihren Körper.
Ein eineinhalb Meter großer
Japaner tat erschrocken einen Satz zurück und glotzte sie mit weit
aufgerissenen Augen an.
„Foto?“, sagte der
erschrockene Mann und hielt seine Spiegelreflexkamera hoch.
Tanja legte die flache Hand
aufs Herz und holte tief Luft, ehe sie energisch den Kopf schüttelte und dem
Mann bedeutete zu gehen. Sie sah sich hektisch nach allen Seiten um. Ihre Lage
war hoffnungslos. Vor ihr der Wahnsinnige, der entschlossen einen Fuß vor den
anderen setzte, als er die Straße überquerte, und hinter ihr ein stetig größer
werdendes Polizeiaufgebot, das sich verzweifelt durch die Touristen drängte.
Sie entschloss sich ihre Chance am Stephansplatz zu suchen.
„Besser die Polizei als ein
irrer Killer“, dachte sie.
Das Wort „Killer“
verursachte Übelkeit in ihr. Tanja drehte dem schwarzen Mann den Rücken zu und
drängte sich turnerisch zwischen den Massen hindurch, versteckte sich hinter
groß gewachsenen Männern und massiven Säulen, bis sie am Hauptportal des Doms
angelangt war.
Sie tauchte in eine
Touristengruppe. Als sie einen Blick über ihren Rücken riskierte, krachte sie
mit einer älteren Frau, die ein rosa Dirndl trug, zusammen. Die Frau richtete
sich die Schürze ihrer Tracht zurecht, als sie das Gleichgewicht wieder erlangt
hatte. Dann lächelte sie Tanja verständnisvoll zu: „Ich weiß mein Kind, an
diesen Trubel hier muss man sich erst gewöhnen.“
Sie riss eine Karte, die zu
einer Dombesichtigung mit Videoguide berechtigte, an einer perforierten Stelle
von einem Block ab und händigte sie Tanja aus: „In einer Stunde treffen wir uns
hier wieder, dann geht es weiter in den Tierpark, meine Liebe.“
Tanja nickte und ließ sich
von der Touristengruppe, deren Tiroler Dialekt unüberhörbar war, zum Eingang treiben.
Durch ein trichterförmiges Portal, das in den Sandstein geschlagen war,
erreicht sie das Innere des Domes.
Der plötzliche
Temperaturunterschied ließ Tanjas Nackenhaare zu Berge stehen.
Tanjas Blick fiel auf den
riesigen dreischiffigen Innenbereich des Gotteshauses. Das Mittelschiff, dessen
Decke annähernd doppelt so hoch war wie die der Seitenschiffe, dominierte ihre
Wahrnehmung. Der weiß-rot gemusterte Marmorboden ging an der Ostseite des Doms
in einen imposanten Hochaltar über. Vom Kreuzrippengewölbe hingen majestätisch
Kronleuchter herab und tauchten den Raum in beruhigendes Licht.
Während der Eingangsbereich
frei zugänglich war, waren das Mittelschiff und das Südschiff durch eine Holzbalustrade
abgetrennt. Im Nordschiff war die Absperrung unterbrochen und von zwei Frauen
flankiert, die Eintrittskarten kontrollierten, bevor die Besucher den Dom
besichtigen durften.
Während sich Tanja in der
Schlange vor dem Einlass einreihte, blickte sie sich immer wieder hektisch um.
In Massen strömten Touristen in das Innere des Stephansdoms, zückten ihre
Kameras, oder deuteten in angeregten Gesprächen auf die architektonischen
Wunder, die der Dom zu bieten hatte.
Die Menschenschlange bewegte
sich flüssig voran und es dauert nicht lange, bis Tanja durch die Zutrittskontrolle
hindurch, im Nordschiff angelangt war. In schnellen Schritten ging sie
ostwärts. Als lautes Getöse aus der Richtung des Ticketschalters an Tanjas Ohr
drang, suchte sie instinktiv Deckung hinter einer Kanzel, die von einem
davorstehenden Schild, das sie beinahe umgestoßen hätte, als Pilgramkanzel
ausgewiesen war. Sie presste ihren Körper gegen den kalten Stein und lugte
vorsichtig hervor. Tanja gefror das Blut in den Adern, als im selben Moment ein
grimmiger Mann vor ihr auftauchte.
„Oh, mein Gott“, erschrak
sie.
Sein zorniger Blick bohrte
sich in Tanjas Netzhäute, wie die Nadel eines Tätowierers in die Haut.
„Nur eine Figur!“, schöpfte
sie tief Luft und versuchte sich selbst zu beruhigen, während
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