Der unsichtbare Killer
Nicht eine Vergangenheit wie diese. Darum ging es also. Es war Zeit, sich zu entscheiden.
Allem den Rücken zu kehren oder es mit dem aufzunehmen, was passieren würde, und sein Möglichstes zu tun, was immer zur Hölle das auch sein mochte. Eigentlich hatte er gar keine Wahl. Das Einzige, das er nicht vorhersehen konnte, war Emilys Reaktion. Sie hatte so etwas nicht verdient; er hatte ihr ein anständiges Leben versprochen, jenseits des Elends, das versucht hatte, sie vom Glück wegzuzerren. Vielleicht hatten sie sich in Wirklichkeit deshalb zueinander hingezogen gefühlt.
Auf der einen Seite er: allein dahintreibend, während er versuchte, sich von den Schrecken seines eigenen Lebens zu erholen. Von dem Verlust und der schrecklichen Unsicherheit, ohne so recht zu wissen, was er tun sollte. Ein Mann, der auf Automatik lief. Und der sich schon damals zum Ozean und allem, was er repräsentierte, hingezogen gefühlt hatte, wie zu einem fehlenden Teil seiner Seele.
Auf der anderen Seite Emily: Saul hatte sie nach Mitternacht auf der alten Hafenmauer der Stadt gefunden; sie saß zusammengekauert am Rand. Er hatte sie schluchzen gehört, noch bevor er sie richtig gesehen hatte. Einen langen Moment war er unschlüssig gewesen, ob er sich nicht einfach umdrehen und weggehen sollte, oder ob er anständig sein wollte. Es war inzwischen auch genug Zeit vergangen, dass er wieder in der Lage war, sich einem anderen Menschen zuzuwenden. Und da sie in Abellia waren, begann er, ihre Geschichte zu erahnen, noch bevor er sich neben sie setzte, erkannte er doch, wie jung und hübsch sie war, schon während er sich neben ihr auf dem Beton niederließ.
»Er hat dich rausgeworfen.«
Emily drehte ihm ihr Gesicht zu; ihre Wangen waren vom Weinen nass. Sie sah ihn verständnislos an und brach wieder in Tränen aus.
Es war die älteste Geschichte der Menschheit, aber eine, die in Abellia noch verfeinert wurde. Emily, aufgewachsen auf New Washington, war Model gewesen und hatte am Beginn einer glamourösen Karriere gestanden. Ihr Liebhaber, ein älterer, reicher Mann, hatte ihr die aufregenden und spritzigen Seiten seiner Welt gezeigt. Er hatte sie zu einem fröhlichen Urlaubstrip nach Abellia mitgenommen, ins Herrenhaus seiner Familie. Dort hatte sie begriffen, auf was für eine Beziehung sie sich wirklich eingelassen hatte: Sie war sein Eigentum, der Zeitvertreib der Woche. Sie stritten sich – eine Scheiße, die er nicht nötig hatte, nicht von jemandem wie ihr.
»Ich habe nicht einmal was anzuziehen«, schniefte sie. »Er hat gesagt, dass die Sachen alle ihm gehören, weil er sie gekauft hat. Und er hat sich geweigert, mich nach Highcastle zurückzufliegen.«
»Weil es Geld kostet«, ergänzte Saul. »Und Geld ist alles, was diese Typen interessiert. Billiger, dich gleich hier zu verlassen, als noch ein Ticket zu bezahlen. Schließlich gibt es kein Gesetz gegen so was. Er ist nicht der Erste, der so was macht, und wird ganz sicher nicht der Letzte sein.«
»Was soll ich nur tun?«
Saul hätte ihr die Wahrheit sagen können. Er hätte sagen können, dass es jemandem, der so jung und hübsch und weiblich war wie sie, nie lange an etwas fehlen würde – nicht, wenn sie es nicht wollte. Dass sie dafür nur in der richtigen Bar sitzen und die Männer anlächeln musste. Aber nun, das wusste sie bereits – deshalb saß sie mitten in der Nacht hier am Hafen und vergoss genug Tränen, um ihre eigene Flut erzeugen zu können.
»Bei mir ist noch ein Zimmer frei«, sagte er. »Du brauchst ein Bett für die Nacht. Und ich weiß, dass es aussieht, als wäre es der Weltuntergang, aber glaube mir, morgen früh ist es nicht mehr so schlimm. Nichts ist das jemals. Ganz besonders nicht während der Morgendämmerung auf St Libra, wenn die Sonne zwischen dem Meer und den Ringen aufgeht.«
Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Warum solltest du so etwas tun?«
»Wegen meiner eigenen Tochter: Ich stelle mir gern vor, jemand würde ihr helfen, wenn sie in so einer Situation wäre.«
»Wirklich? Wo ist sie?«
»Sie ist gestorben, als sie noch sehr jung war. Eine lange Geschichte, und ziemlich traurig. Aber ich sage mir immer wieder, dass es so besser ist.«
»Oh, das tut mir leid.« Und damit ließ sie zu, dass er sie mit in seine Wohnung in einem der umgebauten Lagerhäuser nahm. Drei Monate später wurde das Gebäude abgerissen, weil ein Bauunternehmer vorhatte, aus dem Hafen einen mondänen Vergnügungskomplex zu machen, wo der
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