Der unsichtbare Killer
unbeobachtet fühlte, zu ihr hinüberschaute. Dass sie eine schlanke Figur besaß, überraschte nicht weiter, sie war ungefähr zwanzig, höchstens einundzwanzig vielleicht. Was das erste Mysterium war. Ihre Akte, die im Übrigen unglaublich klein war – wenig mehr als eine Identitätsbescheinigung, um sicherzugehen, dass sie die richtige Person war – besagte, dass sie vierzig war. Ausgeschlossen.
Dann das zweite Rätsel: Warum musste ausgerechnet seine Truppe, und zwar die komplette, ausrücken, um sie um sieben Uhr morgens aus dem Holloway-Knast abzuholen? Ihrer Statuskennzeichnung nach war sie keine Strafgefangene. Seltsam, denn Lieutenant Pablo Botin hatte sie angewiesen, sie wie eine zu behandeln; Paresh und seine Leute waren ihre offizielle Eskorte, und sie mussten Newcastle erreichen, ohne dass es zu einem »Zwischenfall« kam. Doch sie war nicht gefährlich; offenbar jedenfalls nicht gefährlich genug, dass die Ausgabe von schwereren Schusswaffen gerechtfertigt war. Aber warum hatte Botin dann gesagt: »Passt gut auf das Miststück auf. Sie kann verdammt tödlich sein, wenn sie will.«
Seine Seitenblicke gaben ihm auch keinen Hinweis darauf, worauf diese Warnung eigentlich fußte. Gut, sie mochte ja ganz fit sein, aber jeder aus seinem Trupp würde sie mühelos auseinandernehmen können, falls sie so dumm sein sollte, handgreiflich zu werden; sogar Private Audrie Sleath, und die war ein gutes Stück kleiner als die Nicht-Strafgefangene. Und apropos Körpereinsatz … Paresh ließ seinen Blick einen Moment lang verweilen. Sie schaute aus dem Fenster auf die vorbeigleitenden zugeschneiten Vororte Londons. Das wär was, wenn sich diese Beine um seinen Hals schlingen würden. Oh ja.
»Was ist?«, fragte Angela. Sie blickte immer noch aus dem Fenster.
Zu spät bemerkte Paresh sein schwaches Spiegelbild auf dem Glas, das ihn verraten hatte. »Ich versuche bloß, schlau aus Ihnen zu werden, mehr nicht«, erklärte Paresh. Die anderen seines Trupps waren schlagartig hellwach und stießen sich grinsend mit den Ellbogen an, als sie ihre Aufmerksamkeit auf den Corporal und die Kleine fokussierten. Die Frage lautete: Konnte er punkten? Spötter wie Sympathisanten lehnten sich zurück, um die Show zu genießen.
Angela wandte den Kopf und schenkte ihm ein Lächeln, von dem er nicht ganz glauben konnte, dass es ehrlich gemeint war. Gleichwohl ließ es sie auf der Hübschheitsskale noch um einiges nach oben rücken. Sie war eine echte Herzensbrecherin – wären sie in einer Bar gewesen, hätte er sie jetzt gefragt, ob er ihr einen Drink ausgegeben durfte. Aber die Stimme brachte es an den Tag: Sie war stahlhart. Das hatte er auch an diesem Morgen schon bemerkt, als sie am Gefängnis eingetroffen waren, um sie einzusammeln. Sie war nicht mal reisefertig gewesen.
Laut ihrem Befehl hätten sie sie um Punkt sieben einsacken sollen. Keine Chance. Als er und die beiden anderen Regimentsmitglieder zwecks Übergabe in dem Verwaltungsblock eingetroffen waren, hatte sie sich gerade mit der Direktorin und zwei Gefängnisaufseherinnen herumgestritten. Nicht laut, nein … Aber Junge, konnte die kratzbürstig sein; eine Katze war nachgerade unterwürfig dagegen. Beleidigend langsam gesprochene Worte und eine Körperhaltung, die selbst ein Blinder mit dem Krückstock als »Unbewegliches Objekt« zu deuten gewusst hätte.
»Ich hab drei Tage die Woche gearbeitet«, hatte sie gesagt. »Wenn’s hochkommt, hab ich vielleicht zehn Prozent der mir zustehenden Vergütung in Ihrem erbärmlichen Laden für gutes Benehmen verkonsumiert. Diese Einrichtung schuldet mir demnach noch den Ausgleich für neunzig Prozent meiner abgeleisteten Arbeitszeit. Und ich glaube, der gesetzlich festgelegte Mindestlohn beträgt derzeit achtundfünfzig Eurofrancs.«
»Das können Sie nur hier im Hause geltend machen«, hatte die verwirrte Direktorin Einspruch erhoben.
»Aber ich gehöre hier nicht mehr rein, nicht wahr? Deshalb doch gestern dies Meeting. Darum haben Sie doch meine Smartcell-Kennzeichnungen entfernt.«
Hilfesuchend hatte die Direktorin zu ihrer Assistentin hinübergesehen, die es jedoch geschafft hatte, jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. »Ich werde die Sache gleich als Erstes an das Justizministerium weiterleiten. Sie haben mein Wort.«
»Danke.«
Die Direktorin hatte erleichtert gelächelt und Paresh ein Zeichen gegeben. Das war, als Angela sich mit geheucheltem Interesse zu der kleinen Delegation umgeschaut hatte. Dann hatte sie
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