Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unsichtbare Kreis

Der unsichtbare Kreis

Titel: Der unsichtbare Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
Vom Netzwerk:
empfinden freundlich für dich.«
Der Boden des Platzes war aus weißen Platten gefügt, auf deren makellose Reinheit Nekida voller Scheu seinen Fuß setzte. Er blickte zurück. Der rötliche Staubabdruck seiner Sohlen verschwand, als würde er vom Stein aufgesogen. Totenstille hing über der Stadt wie eine unbewegliche Wolke. Die Luft roch nach Ozon, vermischt mit einem blumigen, belebenden Duft.
Nekida suchte nach Vertrautem. Er begriff nichts und fühlte sich ausgestoßen. Indem sie ihn erschreckten, wollten sie ihn zur Umkehr bewegen.
Er vernahm einen hallend vibrierenden Laut, einen künstlich gedämpften Gong. Hörte er das tatsächlich? Beunruhigt musterte er seinen Begleiter.
»Ich habe gelacht«, erklärte Pritratorix.
»Worüber?«
»Dein Erstaunen über unsere Sitten hat mich amüsiert.«
Wie dumm von ihm zu lachen, dachte Nekida ärgerlich. Wiederum berührte ihn die geheimnisvolle Eigenschaft des anderen unangenehm. Mit größter Selbstverständlichkeit drang der in sein Denken ein, bemächtigte sich seiner wie eines rechtlosen Wesens. Das Eigentum der Gedanken war unveräußerbar. Alles andere bedeutete Versklavung.
»Das ist unsere Freiheit«, wisperte Pritratorix.
»Es ist das Gegenteil.«
»Du kannst nicht umgehen mit dieser Freiheit.«
»Wie sollte es eine Individualität bei euch geben, Wechselwirkung von Persönlichkeit und Gesellschaft, Dialektik als vorwärtstreibenden Widerspruch…?«
»Wir kennen keine Isolation, keine Einsamkeit«, erwiderte das Vogelwesen mit ruhiger Überlegenheit.
»Wir werden einander nicht verstehen«, murmelte Nekida.
»Die höchste Form des Verstehens ist Toleranz«, entgegnete Pritratorix. »Ihr seid ängstliche Barbaren.«
Erfolglos suchte Nekida nach einem Argument.
Sie näherten sich der Peripherie des Platzes. Den Rand des Feldes säumten, in regelmäßiger Distanz errichtet, Vogelstatuen. Weiß und überlebensgroß gaben sie dem Platz das Fluidum einer geheimen Kultstätte. Zwischen ihnen nahm sich Nekida aus wie ein verirrtes Tier an einem geheiligten Ort.
Sie stiegen eine lange Stufenkaskade hinunter. Vor ihnen lag die Stadt: ellipsoide Segmente wie Wespenkörper aufeinandergetürmt, Bauten wie Vogeleier, die im Schutz der geschnürten Säulen Platz gefunden hatten. An weitgespannten Armen weintraubenartige Gebilde von vielfachgekehlten zylindrischen Gebäuden.
Nekida ließ seinen Blick schweifen. Hier und da schwebten eigenartig verspielt wirkende Scheiben in der Luft. Ihr Zentrum schien massiv und starr zu sein, während zur Peripherie hin ein pulsierendes Zucken zu erkennen war. Der äußere Rand verlief sich in zahllosen flimmernden Fäden, die, wie von einem unmerklichen Wind bewegt, die Scheiben rhythmisch umwogten. Es war, als lebten diese Gebilde.
»Sie leben«, bemerkte Pritratorix sanft.
»Wozu braucht ihr sie?«
»Sie unterhalten uns.«
Nekida vermeinte in der Antwort eine höfliche Ablehnung zu spüren. Nachdenklich unterließ er es, zu diesem Gegenstand weitere Fragen zu stellen. Die fliegenden Scheiben erzeugten eine tiefempfundene Abwehr in ihm. Er versuchte sich das unbegründete Gefühl zu erklären. War es nur menschliche Voreingenommenheit gegenüber allem Andersartigen? Er zweifelte. Die Scheiben fügten sich in die Harmonie der Stadt ein und bereicherten die unbewegten Formen mit dem Fließen und Schwingen ihrer Linien. Doch irgend etwas stieß ihn ab, so daß er Mühe hatte, seines Ekels Herr zu werden.
Er zwang sich, woandershin zu sehen, das Gleichmaß und die Ausgewogenheit der fremden Architektur zu genießen. Selbst die an einigen Stellen der Stadt schroff und kantig nach oben stoßenden transparenten Säulen, die bis in den Perlmuttnebel des künstlichen Himmels ragten, konnten die Harmonie nicht zerstören. Unter ihrem schimmernden Überzug waren die Glieder eines verflochtenen Skeletts zu sehen, ein vielkantiges Getürm fester Konturen sowie strömender Schlieren. Von ihrem oberen Viertel streckten sich dem Riesendach matte, violette Strahlenbündel entgegen, bis sie vom Dunst aufgesogen wurden.
Weder ein Laut noch ein Staubteilchen störten die Reinheit der Stadt. Von ihren makellosen Wänden floß Schweigen, ein schöner Friede. Lebten hier Wesen mit Gefühlen und Empfindungen? Die Stadt schien erstarrt zu sein in Vollkommenheit.
Nekida war gewiß, er würde sie nicht lange ertragen können, ohne den Wunsch zu verspüren, sich seines Körpers als etwas Mangelhaften zu entledigen. Diese Stadt tötete alles, was anders war. Jedes

Weitere Kostenlose Bücher