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Der unsichtbare Turm

Der unsichtbare Turm

Titel: Der unsichtbare Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Johnson-Shelton
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sehen zu können – nicht, weil wir blind wären, sondern weil wir dachten, dass es sie nicht gibt. Ein Zauberer? Tom Däumling? König Artus? Das ist doch alles nicht zu glauben! Und doch gibt es sie. Wohl oder übel gehören sie jetzt zu unserem Leben.«
    »Ich gebe zu, dass das schwer zu akzeptieren ist, aber du hast recht, Art«, sagte Kynder.
    »Aber die Sache ist die«, fuhr Artie fort, »jetzt, wo ich all das weiß, will ich auch noch mehr wissen. Ich meine, das ist das, was ich bin! Das kann ich fühlen. Ich muss einfach mehr erfahren.«
    Kynder senkte den Blick. Seine Kinder wurden sehr viel schneller groß, als ihm lieb war, und das auf eine Art und Weise, mit der er nie gerechnet hätte. Er schluckte seine Sorge herunter und sagte aufrichtig: »Es ist eine große Sache, etwas über sich selbst zu erfahren. Viele Leute – vor allem Erwachsene – haben ziemlich gemischte Gefühle, was das betrifft. Ich finde, wenn du glaubst, dass es richtig für dich ist, dann bist du es dir schuldig, den Weg zu gehen, der sich vor dir aufgetan hat. Das gilt für euch beide.«
    Kay nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte: »Was ist dann also mit Mom?« Sie fand es verdammt cool, dass Artie ein König werden würde und so weiter. Aber das war es, was sie am allermeisten interessierte.
    »Was meinst du genau, Kay?«, fragte Kynder sichtlich zögernd.
    »Was ist mit ihr passiert? Kannst du mir das sagen?«
    Kynder sah seiner Tochter in die Augen und sagte: »Ich weiß es ehrlich nicht. Ich bin immer noch sehr wütend auf deine Mutter. Es ist nichts, worauf ich stolz bin, und das ist auch der Hauptgrund, warum ich mich geweigert habe, darüber zu sprechen. Ich habe geschworen, ihren Namen nie wieder auszusprechen. Doch in Anbetracht dessen, was alles passiert ist, glaube ich, dass ich mich wohl überwinden muss.« Kynder atmete tief ein und hielt für einen Moment die Luft an. Dann atmete er aus und fuhr fort: »Cassandra – oder Cassie, wie alle sie nannten – war eine sehr besondere, zerbrechliche Person. Sie fühlte sich unwohl in großen Menschenmengen, hasste es zu fliegen und weigerte sich, Leitungswasser zu trinken. So was eben. Aber gleichzeitig war sie auch hinreißend und, nun ja, faszinierend. Sie hatte lange rote Haare und verschiedenfarbige Augen wie du, Kay. Sie konnte wunderbar singen und Klavier spielen. Sie war sehr gebildet. Und sie hat dich sehr geliebt, Kay.« Er hielt eine Sekunde inne. »Das Gleiche gilt leider nicht für dich, Art.«
    Die Kinder blieben still, während Kynder sich sammelte. »Deine Mutter ist wegen Art ganz schön ausgeflippt, was verständlich ist. Aber es war nicht nur das. Sie konnte es nicht ertragen, dass ihr beide euch so lieb hattet. Und dass ich euch beide so sehr geliebt habe – und immer noch liebe. Im Laufe der Monate nahm sie Artie immer weniger wahr – sie konnte ihn einfach nicht annehmen. Am Ende fütterte, badete und kümmerte sie sich um dich, Kay, aber ignorierte deinen Bruder vollkommen, egal, wie sehr er weinte. Ich flehte sie an, doch es war sinnlos. Mehr als einmal verließ sie mit dir das Haus und ließ Art alleine in seiner Wiege, auf dem Hochstuhl oder sogar mitten auf dem Wohnzimmerboden zurück. Für Cassie wurde es mehr und mehr so, als gäbe es Art überhaupt nicht.«
    »Oh Mann.« Kay tat ihr Bruder leid.
    »Ja. Eines Tages hat sie es dann nicht mehr ausgehalten. Sie ist aufgestanden, als würde sie zur Toilette gehen und ist gegangen. Einfach verschwunden. Ich habe nach ihr gesucht, eine Vermisstenanzeige aufgegeben, das volle Programm. Aber es war nichts zu machen. Deine Mutter war weg. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört, bis zu diesem Anruf vor ungefähr einer Woche. Mein Gott, dieser Anruf hat mich völlig fertig gemacht.«
    Kay sagte: »Na ja, sie weiß irgendwas, so viel ist sicher.«
    »Scheint so, ja«, räumte Kynder ein.
    »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, Dad, aber ich muss einfach herausfinden, was es ist«, sagte Kay.
    »Ich auch«, meinte Artie und sah zu seiner Schwester.
    »Danke, Art«, antwortete Kay.
    Kynder lächelte schwach. Er lehnte sich in seinem Sessel vor und legte je eine Hand auf die Knie seiner Kinder. »Das verstehe ich. Ich kann euren Standpunkt gut nachvollziehen. Und komme, was da wolle, ich werde euch unterstützen. Das verspreche ich.«
    Am nächsten Tag fühlten sich alle etwas besser. Während des Frühstücks meinte Kay scherzhaft: »Oh Mann, das waren ganz schön heftige Themen gestern, was,

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