Der Untergang der Hölle (German Edition)
keine Familie mehr? Ich dachte immer, Engeln wäre es erlaubt, sich wieder mit ihren Familien zu vereinen.«
»Ich habe einen Vater. Aber was ich über ihn weiß, ist vage. Ich wurde während des Konflikts von Dämonen gefangen genommen und kann mich an die Zeit vorher kaum noch erinnern. Ich habe lediglich erfahren, dass er zu Lebzeiten Evangelist war. Heute soll er der Anführer einer Gemeinschaft von Engeln hier im Konstrukt sein. Ziemliche Hardliner, die den Konflikt in die Gegenwart hinüberschleifen. Er glaubt, ich hätte ihn abgewiesen und unsere gemeinsame Sache verraten. Also will er mich jagen und gefangen nehmen, um mir eine Gehirnwäsche zu verpassen und mich wieder zu dem Mädchen zu machen, das ich früher war. Oder um mich einfach zu bestrafen, weil ich nicht mehr so bin wie er.« Vee lächelte bitter. »Also nein, was mich betrifft, so habe ich keine Familie mehr.«
Die alte Dame nickte verständnisvoll. Jetzt war es an ihr, »Tut mir leid« zu sagen. Ob bewusst oder nicht, sie hatte den Lauf der Pistole zu Boden gesenkt. Sie seufzte und sah auf das denkende Gewehr hinunter. Jays einsames Auge musterte sie mit seiner roten Iris neugierig. Die alte Frau sah sie an, als wäre sie zu einer Entscheidung gelangt: »Ich bin Judy. Sie können hierbleiben und sich eine Weile ausruhen, wenn Sie möchten. Ich habe kein Essen mehr – mein Sohn Andrew hat sich immer rausgeschlichen, um Vorräte zu beschaffen, aber nachdem er jetzt schläft …«
»Ist schon okay. Trotzdem danke, Judy.«
»Nun, vielleicht … Vielleicht wollen Sie noch eine Weile weiterschlafen? Geht in Ordnung. Sie haben mich nur wirklich überrascht, das ist alles.«
»Das kann ich gut nachvollziehen.« Vee sah hinter sich auf das Bett. »Ich glaube, das würde ich wirklich gerne tun. Mich ausruhen, meine ich. Aber nur, wenn es für Sie wirklich kein Problem ist.«
»Sie sagten, ihr Name ist ... Vee?«
»Ja.«
»Es ist kein Problem, Vee.«
Vee folgte den Geräuschen in die Küche, noch etwas benommen von ihrem Nickerchen. Sie wollte nicht, dass Jay sich ausgeschlossen fühlte, aber sie ließ das Knochengewehr trotzdem im Schlafzimmer zurück, um Judy nicht unnötig zu beunruhigen. Die alte Frau sah zu Vee auf und lächelte freundlich. Vee war erleichtert, dass ihr Argwohn offensichtlich verflogen war. Judy hatte bereits zwei Teller aus diesem lasierten Ton sowie ein paar grobe, aus Blech ausgeschnittene Utensilien vorbereitet und setzte gerade ein Tablett ab, auf dem zwei unförmige, umrankte Wurzeln lagen, die sie entfernt an Ginseng erinnerten. Eine der früheren Arten der Pflanzenwelt im Hades, die erfolgreich im Konstrukt rekultiviert worden war. Vee zog eine Augenbraue hoch.
»Ich weiß, ich hatte Ihnen erzählt, es gäbe nichts zu essen«, erklärte Judy. »Ich hatte noch ein paar von denen hier beiseitegeschafft. Für meinen Enkel, falls er denn jemals wieder aufwacht. Er mag sie für sein Leben gern. Sie schmecken gar nicht so schlimm, wie sie aussehen.«
»Das ist sehr nett«, antwortete Vee und setzte sich. Ihr Magen rumorte beim bloßen Gedanken an Nahrung, egal wie unappetitlich sie aussehen mochte.
»Man isst sie am besten roh, nicht gekocht«, sagte Judy und setzte sich auf ihren Platz. »Ich weiß nicht warum, aber die Hitze verwandelt sie in einen schrecklich faserigen Brei.«
»Roh ist in Ordnung.«
Judy warf eine Wurzel auf Vees Teller. Während sie ihre eigene anschnitt, erinnerte sie sich mit gesenktem Kopf: »Mein Enkel half mir immer gerne beim Kochen. Meine Tochter liebte das auch, als sie noch klein war, in den Töpfen herumzurühren oder Gemüse zu schnippeln.«
Tochter… klein. Vee wusste, dass die Frau jetzt über ihr Leben als Sterbliche sprach. Hing sie diesen alten Geschichten regelmäßig nach oder hatten Vees Erzählungen sie wieder aus dem hintersten Winkel ihres Gedächtnisses hervorgeholt?
Judy begegnete Vees Blick und enthüllte: »Wissen Sie, warum ich in den Hades statt ins Paradies geschickt wurde? Ich bin Jüdin. Ich habe nie jemanden getötet oder ausgeraubt. Aber ich bin eben keine Christin.«
»Es war nicht fair, das ganze System … ich weiß.«
»Und wo steckt meine Tochter jetzt? Meine Enkelkinder? Wohin ist mein Mann gegangen, als er wenige Monate vor mir starb? Sind ihre Seelen da draußen, außerhalb des Konstrukts, versteinert in diesem Felsen und doch bis in alle Ewigkeit wach? Oder treiben sie sich irgendwo hier im Konstrukt herum, und wir haben uns bloß noch nicht
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