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Der Untergang der islamischen Welt

Der Untergang der islamischen Welt

Titel: Der Untergang der islamischen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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gehen. Eigentlich genauso wie das ägyptische Geschichtsbuch für die Sekundarstufe. Und damit man seine Ahnen ehrt, sollte man sie namentlich im Gedicht nennen. Die genealogische Kontinuität ist dem Araber enorm wichtig. Und damit diese Kontinuität bewahrt bleibt, darf kein fremdes Blut in die Familie hineinfließen. Heiraten unter Verwandten ist ein Weg, dies zu garantieren, die Überwachung der Frau und die strenge Sexualmoral sind die anderen. Denn nur die Frau kann wissen, wer der tatsächliche Vater ihres Kindes ist, deshalb wird oft die Ehre der gesamten Familie zwischen den Beinen der Frau plaziert. Die Jungfräulichkeit wird vergöttert und die unberechenbare Leidenschaft der Frau verdammt. Wie in vielen Sprachen wird der Begriff Hymen auch im Arabischen,
ghishaa
al
-
bakara,
als das Siegel der Jungfräulichkeit übermystifiziert. Keiner wäre auf die Idee gekommen, es etwa als »Liebespforte« oder »stairway to heaven« zu entzaubern. Die Überflutung des ägyptischen Markts mit billigen, künstlichen Hymen aus China im Jahr 2009 sorgte für eine heftige politische Debatte, die die Medien, das Gesundheitsministerium und das Parlament wochenlang beschäftigte. Kein Alptraum scheint für einen Muslim größer zu sein, als in seiner Hochzeitsnacht feststellen zu müssen, dass er nicht der Erste war.
    Und so wird die Ehre mit dem arabischen Urprinzip Blut verschmolzen, und beide werden in das Hierarchieverständnis integriert. Elemente aus der Religion kommen hinzu und fügen dem moralischen Stacheldraht weitere Nadeln hinzu. Beschneidung, Verschleierung, Kindesheirat sind einige Praktiken, die diese Hierarchie stützen und die Kontinuität garantieren sollen. Kurzum: Viele Opfer müssen gebracht werden, damit alles bleibt, wie es ist.
    Man beharrt auf diesem Moralkodex und merkt nicht, dass die Verleugnung des Körpers eigentlich gegen die Natur des Menschen ist. Das Ergebnis ist die Unterdrückung der Frauen und eine Verstörung der Männer. Denn das moralische Wunschdenken führt nur zu moralischer Desorientierung und zum Samen- und Energiestau. Oftmals entlädt sich diese Energie krankhaft oder mündet in Fanatismus und Radikalisierung. Sieben von zehn Ägyptern sind unter dreißig Jahre alt. Die meisten von ihnen können sich aus wirtschaftlichen Gründen erst nach dem dreißigsten Geburtstag einen eigenen Hausstand und eine Eheschließung leisten. Das bedeutet, eine große Mehrheit der Bevölkerung kennt die Sexualität nur aus der Phantasie oder als Sünde. Statt über die Liberalisierung der Sexualität oder die Erleichterung der Eheschließung nachzudenken, sind die Verantwortlichen damit beschäftigt, die Menschen und ihre Gesten noch stärker zu kontrollieren. Alarmierend sind nicht nur die massenhaften sexuellen Belästigungen, die junge Frauen auf den Straßen Kairos neuerdings erleben, sondern auch die Hinwendung vieler frustrierter Jugendlicher zum religiösen Wahn als Ausweg. Die besondere Affinität der diktatorischen Regime zur Unterbindung der Sexualität ist historisch bekannt.
    Die Autorin und Frauenrechtlerin Seyran Ates geht in ihrem Buch »Der Islam braucht eine sexuelle Revolution« davon aus, dass das Thema Sexualität die Hauptbarriere zwischen dem Islam und dem Westen ist. Oft würden muslimische Familien ihre Kinder von der westlichen Gesellschaft abschotten, damit diese nicht in Kontakt kommen mit »Dekadenz« und »Unkeuschheit«. Sie fordert deshalb eine sexuelle Revolution, wie sie in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der westlichen Welt stattgefunden hat. Natürlich täte eine Liberalisierung der Sexualität der islamischen Welt gut, doch darf man nicht außer Acht lassen, dass die sexuelle Revolution in Europa die Krönung und nicht der Anfang eines Prozesses namens Aufklärung war. Eine intellektuelle und eine industrielle Revolution, die die Gesellschafts- und Familienstrukturen änderten, waren ihr vorausgegangen, ehe sie zustande kam. Kant und Voltaire, Clara Zetkin und Sigmund Freud, Rudolf Diesel und Simone de Beauvoir waren zuerst da, bevor, sagen wir, Oswald Kolle sich ans Werk machte.
    Die islamische Welt muss zunächst erkennen, dass sie erkrankt ist und dass diese Krankheit im elementaren Denken und im Verständnis dessen, was Tradition bedeutet, liegt. Man kann die Sexualmoral nicht lockern, ohne die Kette, die sie umspannt, vorher zu sprengen. Stammesbewusstsein, Kontinuität, Religion, Gottesbild; das sind die maßgeblichen Kettenglieder, die

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