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Der Untergang der islamischen Welt

Der Untergang der islamischen Welt

Titel: Der Untergang der islamischen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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statt »Stolz« auch »Männlichkeit« sagen, denn die Worte »Mann« und »Stolz« sind in vielen arabischen Begriffen miteinander verflochten.

    Die eher marginale Stellung der Religion in der Gesellschaft sowie der in Europa übliche »aufgeklärte« Umgang mit den heiligen Symbolen verunsichern Menschen, für die das Heilige unantastbar ist. Ein arabischer Student berichtete mir, dass er entsetzt gewesen sei, als sein deutscher Kommilitone einen Witz erzählte, in dem er Jesus, Maria und die unbefleckte Empfängnis verspottete. »Wie kann eine Gesellschaft, die ihre eigene Religion nicht versteht und gar nicht respektiert, unsere verstehen oder respektieren?«, fragte der arabische Student, der Jesus und Maria, wie sie im Koran dargestellt sind, als heilige Personen ansieht. Im aufgeklärten Europa unterliegt alles der kritischen Betrachtung. Der arabische Student bewunderte dies, meinte aber auch: »Ich kann es mir nicht leisten, die Grundlagen meiner Religion und meiner Kultur in Frage zu stellen. Kritik ist eine Sucht, eine europäische Krankheit, von der man nie geheilt werden kann. Ich kann darauf verzichten, alles zu analysieren oder zu verstehen, aber auf meinen Glauben kann ich nie verzichten. Glauben ist eine Frage des Vertrauens. Wenn ich alles verstehe, wo bleibt dann das Vertrauen?«
    Das Leben der Muslime in Europa ist von dem Widerspruch geprägt, als Minderheit in nichtmuslimischen, säkularen und sich rasant wandelnden Gesellschaften leben zu müssen. Ein Spagat zwischen den importierten Bräuchen und den europäischen Normen ist oft das Ergebnis. Der Glaube wird zum leitenden Identitätsmerkmal, und die Migration wird als Exil empfunden oder als solches mystifiziert. Deswegen erhöht sich für Emigranten die Bedeutung der Religion. In der Fremde bietet sie auch Identitätssicherheit, Geborgenheit und Trost. Deshalb sind Religion, Heimatverbundenheit, ethnische und kulturelle Identität in der Diaspora kaum voneinander zu trennen. Religion wird in der Fremde zu einer Heimat, aber keine Heimat, in der die Muslime leben, sondern eine, die in ihnen lebt. Sie wird in der Fremde zum Ersatz für die
Umma
. Das Festhalten an der Religion bringt einem Respekt und Ansehen innerhalb der konservativen Kreise in der Diaspora ein und bietet gleichzeitig eine Möglichkeit zur »symbolischen Rückkehr« zu Sippe und Heimat. An Beispielen für das zähe Festhalten an der überkommenen Religion in der Diaspora mangelt es nicht: erwähnt seien etwa die deutschen Protestanten, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nach Südchile auswanderten und dort inmitten des Araukanergebietes ländliche Siedlungskolonien errichteten; die Rolle des Katholizismus bei den Iren in den USA oder jene des Talmud bei den über die gesamte westliche und teilweise auch östliche Welt verstreuten jüdischen Gemeinden bis zur Gründung des Staates Israel.
    Doch jede Minderheit musste irgendwann über den eigenen Schatten springen und Wege finden, aus der Isolation auszubrechen, um sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden. Frau Seki ist Japanerin und betreibt einen Online-Asia-Laden in der bayerischen Kleinstadt Rosenheim. Als sie mit ihrem Mann vor zehn Jahren nach Deutschland kam, sprach sie kein Wort Deutsch. »Ich stand oft im Bahnhof und hatte Angst vor dem Lautsprecher, weil ich nichts verstand. Wenn man nicht kommunizieren kann, entwickelt man zwangsläufig eine Abneigung gegen seine Umgebung.« Dass die Läden in Deutschland früh schließen und der Service zu wünschen übrig lässt, hatte sie früher auch sehr gestört. Doch langsam erkannte sie, dass Nörgeln ihr nicht weiterhelfen kann, fing an, Deutsch zu lernen, und machte sich sogar selbständig. »Jetzt kann ich verstehen, was die Leute sagen, und ich kann meine Wünsche zum Ausdruck bringen. Das nimmt mir meine Angst und macht das Leben ein Stück schöner«, sagt sie. Nun kann sie sogar ihren beiden Kindern bei den Hausaufgaben helfen. Selbstverständlich haben auch ihre Kinder Identitätsprobleme, fühlen sich weder deutsch noch japanisch. Aber »die Eltern sollten sich da neutral verhalten und diese Konflikte nicht verschärfen«, sagt sie.
    Frau Seki fühlt sich in Deutschland nicht nur integriert, sondern »verschmolzen«. Sie schätzt an den Deutschen deren Lockerheit und Großzügigkeit gegenüber Fremden. Auch gefällt ihr, dass die Deutschen nicht so streng sind im Umgang mit der Zeit. So redet man zum Beispiel von einer Zugverspätung erst, wenn der Zug

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