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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Ansichten –, liegt in der Symbolik dieses rätselhaft hieratischen Hintergrundes. Das Wesen der Körper war ein wichtiger Streitpunkt der Neupythagoräer und Neuplatoniker wie später der Schulen von Bagdad und Basra. Suhrawardi unterschied Ausdehnung als das primäre Wesen des Körpers von seiner Breite, Höhe und Tiefe als den Akzidentien. Von Nazzâm werden den Atomen körperliche Substanz und das Merkmal der Raumerfüllung abgesprochen. Das alles waren metaphysische Ansichten, die von Philo und Paulus an bis auf die letzten Größen der islamischen Philosophie das arabische Weltgefühl offenbaren. Sie spielen im Streit der Konzile um die Substanz Christi die entscheidende Rolle. Der Goldgrund jener Gemälde im Bereich der westlichen Kirche hat also eine ausgesprochene dogmatische Bedeutung. Er drückt Wesen und Walten des göttlichen Geistes aus. Er repräsentiert die
arabische
Gestalt des christlichen Weltbewußtseins, und es hängt tief damit zusammen, daß diese Behandlung des Hintergrundes für Darstellungen aus der christlichen Legende tausend Jahre lang als die einzige metaphysisch, selbst ethisch mögliche und würdige erscheint. Als die ersten »wirklichen« Hintergründe in der frühen Gotik auftauchen, mit blaugrünem Himmel, weitem Horizont und Tiefenperspektive, wirken sie zunächst profan, weltlich, und man hat den dogmatischen Wandel, der sich hier verriet, wohl gefühlt, wenn auch nicht erkannt. Das zeigen jene Teppichhintergründe, durch welche die eigentliche Tiefe mit heiliger Scheu verdeckt wird. Man ahnt sie, aber man wagt nicht, sie zur Schau zu stellen. Wir sahen, wie gerade damals, als das
faustische
– germanisch-katholische – Christentum durch die Ausbildung des Sakraments der Buße zum Bewußtsein seiner selbst gelangt war, eine neue Religion im alten Gewande, in der Kunst der Franziskaner die perspektivische und farbige, den Luftraum erobernde Tendenz den ganzen Sinn der Malerei umgestaltete. Das abendländische Christentum verhält sich zum morgenländischen wie das Symbol der Perspektive zu dem des Goldgrundes, und das endgültige Schisma tritt in Kirche und Kunst fast gleichzeitig ein. Man begreift den landschaftlichen Hintergrund der Bildszene zugleich mit der
dynamischen
Unendlichkeit Gottes; und zugleich mit den Goldgründen der kirchlichen Gemälde verschwinden aus den abendländischen Konzilen jene magischen, ontologischen Gottheitsprobleme, welche alle orientalischen wie die von Nikäa, Ephesus und Chalcedon leidenschaftlich bewegt hatten.
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    Die Venezianer haben die Handschrift des
sichtbaren Pinselstrichs
entdeckt und als musikhaftes, raumschaffendes Motiv in die Ölmalerei eingeführt. Von den Florentiner Meistern war die antikisierende und doch dem gotischen Formgefühl dienende Manier, durch Glättung aller Übergänge reine, scharf umrissene, ruhende Farbflächen zu schaffen, nie angegriffen worden. Ihre Bilder haben etwas
Seiendes
, und zwar in deutlich gefühltem Gegensatz zu der heimlichen Bewegtheit der über die Alpen hereindringenden Ausdrucksmittel der Gotik. Der Farbenauftrag des 15. Jahrhunderts verneint Vergangenheit und Zukunft. Erst in der sichtbar bleibenden, gleichsam nie erstarrenden Arbeit des Pinsels kommt ein
historisches
Empfinden zum Vorschein. Man will im Werk des Malers nicht nur etwas sehen, das
geworden
ist, sondern auch etwas, das
wird
. Das gerade hatte die Renaissance vermeiden wollen. Ein Gewandstück des Perugino erzählt nichts von seiner künstlerischen Entstehung. Es ist
fertig
, gegeben, schlechthin gegenwärtig. Die einzelnen Pinselstriche, die man als eine vollkommen neue Formensprache zuerst in den Alterswerken Tizians trifft, Akzente eines persönlichen Temperaments, charakteristisch wie die Orchesterfarben Monteverdis, ein melodisches Fluten wie im venezianischen Madrigal dieser Jahre, Streifen und Flecke, die unvermittelt nebeneinander stehen, sich kreuzen, decken, verwirren, bringen eine unendliche Bewegtheit in das farbige Element. Auch die gleichzeitige geometrische Analysis läßt ihre Objekte werden, nicht sein. Jedes Gemälde hat in seinem Duktus eine Geschichte und verschweigt sie nicht. Vor ihm fühlt der faustische Mensch, daß er eine seelische Entwicklung besitzt. Vor jeder großen Landschaft eines Barockmeisters darf man das Wort »historisch« aussprechen, um einen Sinn in ihr zu fühlen, der einer attischen Statue gänzlich fremd ist. Das ewige Werden, die gerichtete Zeit, das dynamische Weltenschicksal ruht auch

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