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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Inbegriff bleibender Merkmale, der sich für den wortgewohnten Menschen zu einem
Bilde des Verstandenen
zusammenschließt, der
Welt als Natur
. Was nicht äußere Welt ist, sehen wir nicht; aber wir spüren seine Gegenwart, in andern und in uns selbst. »Es« weckt durch seine Art, sich physiognomisch bemerkbar zu machen, Angst und Wißbegier, und so entsteht das nachdenkliche
Bild einer Gegenwelt
, durch das wir uns vorstellen, sichtbar vor uns hinstellen, was dem Auge selbst ewig fremd bleibt. Das Bild der Seele ist mythisch und ein Gegenstand von Seelenkulten, solange das Bild der Natur religiös erschaut wird; es verwandelt sich in eine wissenschaftliche Vorstellung und wird der Gegenstand gelehrter Kritik, sobald man »die Natur« kritisch beobachtet. Wie »die Zeit« ein Gegenbegriff zum Raum, so ist »die Seele« eine Gegenwelt zur »Natur« und von deren Auffassung in jedem Augenblick mitbestimmt. Es war gezeigt worden, wie »die Zeit« aus dem Gefühl der Richtung des ewig bewegten Lebens, aus der inneren Gewißheit eines Schicksals heraus als gedankliches
Negativ
zu einer positiven Größe entstand, als Inkarnation dessen, was
nicht Ausdehnung
ist, und daß sämtliche »Eigenschaften« der Zeit, durch deren abstrakte Zerlegung die Philosophen das Zeitproblem lösen zu können glauben, als Umkehrung der Eigenschaften des Raumes im Geiste allmählich gebildet und geordnet worden sind. Genau auf demselben Wege ist die Vorstellung vom Seelischen als Umkehrung und
Negativ der Weltvorstellung
unter Zuhilfenahme der räumlichen Polarität »außen – innen« und durch entsprechende Umdeutung der Merkmale entstanden.
Jede Psychologie ist eine Gegenphysik.
    Ein »exaktes Wissen« von der ewig geheimnisvollen Seele erhalten zu wollen, ist sinnlos. Aber der späte städtische Trieb, abstrakt zu denken, zwingt den »Physiker der inneren Welt« gleichwohl dazu, eine Scheinwelt von Vorstellungen durch immer neue Vorstellungen, Begriffe durch Begriffe zu erklären. Er denkt das Nichtausgedehnte in Ausgedehntes um, er erbaut als Ursache dessen, was nur physiognomisch in Erscheinung tritt, ein System, und in diesem glaubt er, die Struktur »der Seele« vor Augen zu haben. Aber schon die Worte, welche in allen Kulturen gewählt werden, um diese Ergebnisse gelehrter Arbeit mitzuteilen, verraten alles. Da ist von Funktionen, Gefühlskomplexen, Triebfedern, Bewußtseinsschwellen, von Verlauf, Breite, Intensität, Parallelismus der seelischen Prozesse die Rede. Aber alle diese Worte stammen aus der Vorstellungsweise der Naturwissenschaft. »Der Wille bezieht sich auf Gegenstände« – das ist doch ein Raumbild. Bewußtes und Unbewußtes – da liegt allzu deutlich das Schema von überirdisch und unterirdisch zugrunde. In den modernen Theorien des Willens wird man die ganze Formensprache der Elektrodynamik finden. Wir reden von Willensfunktionen und Denkfunktionen in genau demselben Sinne wie von der Funktion eines Kräftesystems. Ein Gefühl analysieren, heißt ein raumartiges Schattenbild an seiner Stelle mathematisch behandeln, es abgrenzen, teilen und messen. Jede Seelenforschung dieses Stils, sie mag sich über Gehirnanatomie noch so erhaben dünken, ist voll von mechanischen Lokalisationen und bedient sich, ohne es zu bemerken, eines eingebildeten Koordinatensystems in einem eingebildeten Seelenraum. Der »reine« Psychologe merkt gar nicht, daß er den Physiker kopiert. Kein Wunder, daß sein Verfahren mit den albernsten Methoden der experimentellen Psychologie so verzweifelt gut übereinstimmt. Gehirnbahnen und Assoziationsfasern entsprechen der Vorstellungsweise nach durchaus dem optischen Schema: »Willens-« oder »Gefühlsverlauf«; sie behandeln beide verwandte, nämlich
räumliche
Phantome. Es ist kein großer Unterschied, ob ich ein psychisches Vermögen begrifflich oder eine entsprechende Region der Großhirnrinde graphisch abgrenze. Die wissenschaftliche Psychologie hat ein geschlossenes System von Bildern herausgearbeitet und bewegt sich mit vollkommener Selbstverständlichkeit in ihm. Man prüfe jede einzelne Aussage jedes einzelnen Psychologen und man wird nur Variationen dieses Systems im Stile der jeweiligen Außenwelt finden.
    Das klare, vom Sehen abgezogene Denken setzt den Geist einer Kultursprache als Mittel voraus, das, vom Seelentum einer Kultur als Teil und Träger ihres Ausdrucks geschaffen, nun eine »Natur« der Wortbedeutungen, einen sprachlichen Kosmos bildet, innerhalb dessen die abstrakten

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