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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Begriffe, Urteile, Schlüsse – Abbilder von Zahl, Kausalität, Bewegung – ihr mechanisch bestimmtes Dasein führen. Das jeweilige Bild der Seele ist also
vom Wortgebrauch und dessen tiefer Symbolik
abhängig. Die abendländischen – faustischen – Kultursprachen besitzen sämtlich den Begriff »Wille« – eine mythische Größe, die gleichzeitig durch die Umbildung des Verbums versinnlicht wird, die einen entscheidenden Gegensatz zum antiken Sprachgebrauch
und also
Seelenbilde schafft.
Ego habeo factum
statt
feci
– da erscheint ein
numen
der inneren Welt. Mithin erscheint, von der Sprache bestimmt, im wissenschaftlichen Seelenbilde aller abendländischen Psychologien die Gestalt des Willens als ein wohlumgrenztes Vermögen, das man in den einzelnen Schulen wohl verschieden bestimmt, dessen Vorhandensein an sich aber keiner Kritik unterworfen ist.
    Ursprachen bilden keine Unterlage für abstrakte Gedankengänge. Am Anfang jeder Kultur erfolgt aber eine innere Wandlung der vorhandenen Sprachkörper, die sie zu den höchsten symbolischen Aufgaben der Kulturentwicklung fähig macht. So entstehen
zugleich mit dem romanischen Stil
das Deutsche und Englische aus den germanischen Sprachen der Frankenzeit, und das Französische, Italienische, Spanische aus der
lingua rustica
der ehemaligen Römerprovinzen, trotz so verschiedener Herkunft Sprachen von
identischem
metaphysischem Gehalt.
2
    Ich behaupte also, daß die gelehrte Psychologie, weit entfernt, das Wesen der Seele aufzudecken oder auch nur zu berühren – es ist hinzuzufügen, daß jeder von uns, ohne es zu wissen, Psychologie dieser Art treibt, wenn er sich eigne oder fremde Seelenregungen »vorzustellen« sucht –, zu allen Symbolen, die den Makrokosmos des Kulturmenschen bilden, ein weiteres hinzufügt. Wie alles Vollendete, nicht sich Vollendende, stellt es einen
Mechanismus
an Stelle eines
Organismus
dar. Man vermißt im Bilde, was unser Lebensgefühl erfüllt und was doch gerade »Seele« sein sollte: das Schicksalhafte, die wahllose Richtung des Daseins, das Mögliche, welches das Leben in seinem Ablauf verwirklicht. Ich glaube nicht, daß in irgend einem psychologischen System das Wort Schicksal vorkommt, und man weiß, daß nichts in der Welt weiter von wirklicher Lebenserfahrung und Menschenkenntnis entfernt ist als ein solches System. Assoziationen, Apperzeptionen, Affekte, Triebfedern, Denken, Fühlen, Wollen – alles das sind tote Mechanismen, deren Topographie den belanglosen Inhalt der Seelenwissenschaft bildet. Man wollte das Leben finden und traf auf eine Ornamentik von Begriffen. Die Seele blieb, was sie war, das was weder gedacht noch vorgestellt werden kann,
das
Geheimnis,
das
ewig Werdende, das reine Erlebnis.
    Dieser
imaginäre Seelenkörper
– das sei hier zum ersten Male ausgesprochen – ist niemals etwas andres als das getreue Spiegelbild der Gestalt, in welcher der gereifte Kulturmensch seine äußere Welt erblickt. Das Tiefenerlebnis verwirklicht hier wie dort die ausgedehnte Welt. [Vgl. Bd. I, S. 222ff.] Das mit dem Urwort Zeit angedeutete Geheimnis schafft aus dem Empfinden des Außen wie aus dem Vorstellen des Innen
den
Raum. Auch das Seelenbild hat seine Tiefenrichtung, seinen Horizont, seine Begrenztheit oder Unendlichkeit. Ein »inneres Auge« sieht, ein »inneres Ohr« hört. Es gibt eine deutliche Vorstellung einer inneren Ordnung, die wie die äußere das Merkmal
kausaler Notwendigkeit
trägt.
    Und damit ergibt sich nach allem, was in diesem Buch über die Erscheinung der hohen Kulturen gesagt worden ist, eine ungeheure Erweiterung und Bereicherung der Seelenforschung. Alles, was von Psychologen heute gesagt und geschrieben wird – es ist nicht allein von systematischer Wissenschaft, sondern auch von physiognomischer Menschenkenntnis im weitesten Sinne die Rede –, bezieht sich allein auf den
gegenwärtigen
Zustand der
abendländischen
Seele, während die bisher selbstverständliche Meinung, diese Erfahrungen seien für die »menschliche Seele« überhaupt gültig, ohne Prüfung hingenommen worden ist.
    Ein Seelenbild ist immer nur das Bild einer ganz bestimmten Seele. Kein Beobachter wird je aus den Bedingungen seiner Zeit und seines Kreises heraustreten, und was er auch »erkennen« möge: jede dieser Erkenntnisse ist bereits ein Ausdruck seiner eignen Seele, nach Auswahl, Richtung und innerer Form. Schon der primitive Mensch legt sich aus Tatsachen
seines
Lebens ein Seelenbild zurecht, wobei die Urerfahrungen des

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