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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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charaktervollen Seele ist durch den
consensus
des neuen Glaubens geschaffen worden. Sie ist so wenig wie die christliche, jüdische und persische eine Einheit der Rasse und mit einer Heimat verbunden; sie ist also auch nicht »ausgewandert« und hat vielmehr ihre ungeheure Ausdehnung durch die Aufnahme des größten Teils der frühmagischen Nationen in ihren Verband erhalten. Diese Nationen gehen mit dem Ende des ersten Jahrtausends sämtlich in die Form von Fellachenvölkern über und als solche haben die Christenvölker der Balkanhalbinsel unter türkischer Herrschaft, die Parsen in Indien und die Juden in Westeuropa seitdem gelebt.
    Die Nationen faustischen Stils treten seit Otto dem Großen in immer bestimmteren Umrissen hervor und lösen die Urvölker der Karolingerzeit sehr bald auf. [ Ich bin überzeugt, daß die Nationen Chinas, die zu Beginn der Dschouzeit im Gebiet des mittleren Hoangho in großer Zahl entstanden, ebenso wie die Gauvölker des ägyptischen Alten Reichs, von denen jedes eine Hauptstadt und eine besondere Religion besaß und die noch zur Römerzeit förmliche Religionskriege gegeneinander führten, ihrer inneren Form nach den Völkern des Abendlandes verwandter gewesen sind als den antiken und arabischen. Indessen ist die Forschung auf solche Fragen noch gar nicht aufmerksam geworden.] Um das Jahr 1000 bereits empfinden sich die bedeutenderen Menschen überall als Deutsche, Italiener, Spanier oder Franzosen, während kaum sechs Generationen früher ihre Ahnen sich im Grunde ihrer Seele als Franken, Langobarden oder Westgoten gefühlt hatten.
    Der Völkerform dieser Kultur liegt wie der gotischen Architektur und der Infinitesimalrechnung ein Hang zum Unendlichen zugrunde, und zwar im räumlichen wie im zeitlichen Sinne. Das Nationalgefühl umfaßt einerseits einen geographischen Horizont, der für eine so frühe Zeit und ihre Verkehrsmittel ungeheuer genannt werden muß und in keiner anderen Kultur seinesgleichen hat. Das Vaterland
als Weite
, als ein Gebiet, dessen Grenzen der Einzelne kaum je erblickt hat und für dessen Schutz zu sterben er doch bereit ist, kann in seiner symbolischen Tiefe und Mächtigkeit von Menschen fremder Kulturen nie verstanden werden. Die magische Nation besitzt als solche überhaupt keine irdische Heimat; die antike besitzt sie nur als Punkt, auf dem sie sich zusammendrängt. Daß es schon in gotischer Zeit wirklich etwas gab, worin sich Menschen im Etschtal und in den Ordensschlössern Litauens als Glieder
eines 
Verbandes fühlten, ist im alten China und Ägypten völlig undenkbar und bildet den schroffsten Gegensatz zu Rom und Athen, wo alle Mitglieder des Demos sich gewissermaßen beständig im Auge hatten.
    Noch stärker ist das Pathos der Ferne im
zeitlichen
Sinne. Es hat der Idee des Vaterlandes, die aus dem nationalen Dasein
folgt
, eine zweite vorangestellt, welche die faustischen Nationen überhaupt erst
erzeugt: die dynastische
. Faustische Völker sind historische Völker, Gemeinschaften, die sich nicht durch den Ort oder
consensus
, sondern durch Geschichte verbunden fühlen; und als Sinnbild und Träger des gemeinsamen Schicksals erscheint weithin sichtbar das herrschende Haus. Für den ägyptischen und chinesischen Menschen war die Dynastie ein Symbol von ganz anderer Bedeutung. Hier bedeutet sie die Zeit, insofern sie wollend und handelnd ist. Was man gewesen war, was man sein wollte, das erblickte man im Dasein eines einzelnen Geschlechts. Dieser Sinn wurde so tief empfunden, daß die Würdelosigkeit eines Regenten das dynastische Gefühl nicht erschüttern konnte; die Idee, nicht die Person stand in Frage. Und es geschah um der Idee willen, daß Tausende für einen genealogischen Streit mit Überzeugung in den Tod gingen. Antike Geschichte war für das antike Auge eine Kette von Zufällen, die von Augenblick zu Augenblick führte; magische Geschichte war für ihre Menschen die fortschreitende Verwirklichung eines von Gott entworfenen Weltplanes, der sich zwischen Schöpfung und Untergang an den Völkern und durch sie vollzog; faustische Geschichte ist für unsern Blick ein einziges großes Wollen von bewußter Logik, in dessen Vollendung die Nationen durch ihre Herrscher geführt und vertreten werden. Das ist ein Zug der Rasse. Begründen läßt es sich nicht. So hat man es empfunden und deshalb hat sich aus der Gefolgstreue der germanischen Wanderzeit die Lehnstreue der Gotik, die Loyalität des Barock und das nur scheinbar undynastische

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