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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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noch nicht vor. Zwar sollte schon in der altpersischen Apokalyptik der Saoshyant als Heiland der letzten Tage von einer Jungfrau geboren werden; der neue westliche Mythus aber war von ganz anderer Bedeutung und hatte unermeßliche Folgen. Denn nun erhob sich im Gebiet der Pseudomorphose neben Jesus als dem Sohne und weit über ihn hinaus die Gestalt der Gottesmutter, der Mutter Gottes, ebenfalls ein schlichtes Menschenschicksal von so ergreifender Gewalt, daß es all die tausend Jungfrauen und Mütter des Synkretismus, Isis, Tank, Kybele, Demeter und alle Mysterien von Geburt und Leiden überragte und zuletzt in sich aufnahm. Nach Irenäus ist sie die Eva einer neuen Menschheit. Origenes verficht ihre dauernde Jungfräulichkeit. Durch die Geburt des Erlösergottes hat eigentlich sie die Welt erlöst. Die Theotokos Maria, die Gottesgebärerin, war das große Ärgernis der Christen jenseits der antiken Grenze, und die aus dieser Vorstellung entwickelten Lehrsätze gaben zuletzt den Anlaß für Monophysiten und Nestorianer, sich abzulösen und die reine Jesusreligion wiederherzustellen. Aber als die faustische Kultur erwachte und eines großen Symbols bedurfte, um ihr Urgefühl für die unendliche Zeit, die Geschichte und die Folge der Geschlechter sinnlich zu fassen, da hat sie
die Mater dolorosa und nicht den leidenden Erlöser
in die Mitte des germanisch-katholischen Christentums der Gotik gestellt, und durch ganze Jahrhunderte blühender Innerlichkeit ist diese Frauengestalt der eigentliche Inbegriff faustischen Weltgefühls und das Ziel aller Dichtung, Kunst und Frömmigkeit gewesen. Noch heute nimmt im Kult und in den Gebeten der katholischen Kirche und vor allem im Gefühl der Gläubigen Jesus den zweiten Platz nach der Madonna ein. Ed. Meyer, Urspr. u. Anfänge d. Christentums (1921), S. 77 ff.
    Neben dem Marienkult entstanden die unzähligen Kulte der Heiligen, deren Zahl die der antiken Ortsgottheiten sicherlich aufwog, und als die heidnische Kirche zuletzt erlosch, konnte die christliche den ganzen Schatz örtlicher Kulte unter der Form der Heiligenverehrung in sich aufnehmen.
    Aber Paulus und Markus haben noch etwas anderes entschieden, dessen Tragweite gar nicht überschätzt werden kann. Es war die Folge
seiner
Mission, daß das Griechische die Sprache der Kirche und ihrer heiligen Schriften, voran des ersten Evangeliums, wurde, wofür ursprünglich nicht einmal die Wahrscheinlichkeit vorlag. Eine heilige
griechische
Literatur – man bedenke, was das alles einschloß. Die Jesuskirche wurde von ihrem seelischen Ursprung künstlich abgetrennt und einem fremden, gelehrten angeheftet. Die Fühlung mit dem Volkstum des aramäischen Mutterlandes ging verloren. Von da an hatten die beiden Kultkirchen die gleiche Sprache, die gleiche begriffliche Überlieferung, die gleichen Bücherschätze derselben Schulen. Die viel ursprünglicheren aramäischen Literaturen des Ostens, die eigentlich magischen, geschrieben und gedacht in der Sprache Jesu und seiner Gefährten, waren damit von der Mitwirkung am Leben der Kirche abgeschnitten. Man konnte sie nicht lesen, man verfolgte sie nicht mehr, man vergaß sie endlich. Mochten auch die heiligen Texte der persischen und jüdischen Religion awestisch und hebräisch abgefaßt sein, so war doch die Sprache ihrer Urheber und Erklärer, die Sprache der gesamten Apokalyptik, aus welcher die Lehre Jesu und die Lehre von ihm herangewachsen waren, und endlich die der Gelehrten an allen Hochschulen Mesopotamiens das Aramäische. Das alles entschwand nun aus dem Gesichtskreis und an seine Stelle traten Plato und Aristoteles, die von den Scholastikern beider Kultkirchen in gemeinsamer Arbeit und in gleichem Sinne mißverstanden wurden.
    Den letzten Schritt in dieser Richtung wollte der Mann tun, welcher Paulus an organisatorischer Begabung gleich, an geistiger Gestaltungskraft weit überlegen war, der an Sinn für das Mögliche und Tatsächliche aber hinter ihm zurückstand und deshalb mit seinen großartigen Absichten gescheitert ist: Marcion. [Etwa 85–155, vergl. A. v. Harnack, Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott (1921).] Er erblickte in der Schöpfung des Paulus mit allen ihren Folgen nur die Unterlage zur Stiftung der eigentlichen Erlöserreligion. Er empfand das Sinnlose der Tatsache, daß Christentum und Judentum, die sich rücksichtslos verwarfen, dieselbe heilige Schrift, nämlich den
jüdischen
Kanon besitzen sollten. Es erscheint uns heute unfaßlich, daß es hundert

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