Der Untergang des Abendlandes
Jahre lang wirklich so war. Man bedenke, was der heilige Text für jede Art magischer Religiosität bedeutet. Hierin sah er die eigentliche »Verschwörung gegen die Wahrheit« und eine dringende Gefahr für die von Jesus gewollte und nach seiner Ansicht noch nicht verwirklichte Lehre. Paulus, der Prophet, hat das Alte Testament für
erfüllt und abgeschlossen
erklärt; Marcion, der Religionsstifter, erklärt es für
überwunden und abgeschafft
. Er will alles Jüdische bis auf den letzten Rest ausschalten. Er hat sein Leben hindurch nichts bekämpft als das Judentum. Wie jeder echte Religionsstifter und jede im Religiösen schöpferische Zeit, wie Zarathustra, die israelitischen Propheten, wie die homerischen Griechen und die zum Christentum bekehrten Germanen hat er die alten Götter in verworfene Mächte verwandelt. [A. v. Harnack a. a. O., S. 136ff. N. Bonwetsch, Grundr. d. Dogmengesch. (1919), S. 45f.] Jehovah ist als der Schöpfergott das »gerechte«
und also das böse
, [Es gehört zu den tiefsten Gedanken der gesamten Religionsgeschichte und wird dem frommen Durchschnittsmenschen immer unverständlich bleiben, daß Marcion das »Gerechte« mit dem Bösen gleichsetzt und in diesem Sinne das Gesetz des Alten Testaments dem Evangelium des Neuen gegenüberstellt.] Jesus als Verleiblichung des Erlösergottes in dieser bösen Schöpfung das »fremde«, also das gute Prinzip. Das magische und im besonderen persische Grundgefühl ist ganz unverkennbar. Marcion stammte aus Sinope, der alten Hauptstadt des mithridatischen Reiches, dessen Religion schon durch die Namen seiner Könige bezeichnet wird. Hier war einst der Mithraskult entstanden.
Aber zu dieser neuen Lehre gehörte auch eine neue heilige Schrift. Das für die ganze Christenheit bis dahin kanonische »Gesetz und die Propheten« war
die Bibel des Judengottes,
die gerade damals vom Synedrion in Jabna endgültig zusammengestellt worden war. Die Christen hatten also ein teuflisches Buch in Händen. Marcion stellte ihr nun die Bibel des Erlösergottes entgegen und zwar in gleicher Weise aus Schriften geordnet, die bis dahin als bloße Erbauungsbücher ohne kanonisches Ansehen in den Gemeinden umliefen [Um 150, vgl. A. v. Harnack a. a. O., S. 32ff.] : an die Stelle der Tora setzte er das –
eine und wahre
– Evangelium, das er aus mehreren, nach seiner Überzeugung verdorbenen und verfälschten Einzelevangelien einheitlich aufbaute, an die Stelle der israelitischen Propheten die Briefe des einzigen
Jesuspropheten
Paulus.
Damit wurde Marcion der eigentliche Schöpfer des Neuen Testaments. Aber deshalb muß nun die ihm eng verwandte Gestalt jenes rätselhaften Unbekannten genannt werden, der nicht lange vorher das Evangelium »nach Johannes« geschrieben hatte. Er wollte damit die
eigentlichen
Evangelien weder vermehren noch ersetzen, sondern er hat, anders als Markus, mit vollem Bewußtsein etwas ganz Neues geschaffen,
das erste »heilige Buch«
im christlichen Schrifttum, den Koran der neuen Religion. [Über die Begriffe Koran und Logos s. unten. Es ist wieder wie bei Markus nicht die wichtigste Frage, welches seine Vorlagen gewesen sind, sondern wie der ganz neue Gedanke zu einem solchen Buch, das den Plan Marcions von einer Christenbibel vorwegnimmt und überhaupt erst möglich macht, entstehen konnte. Das Buch setzt eine große geistige Bewegung (im östlichen Kleinasien?) voraus, die von Judenchristen kaum etwas weiß und auch der paulinischen – westlerischen – Gedankenwelt fernsteht, von deren Ort und Art wir aber gar nichts wissen.] Das Buch beweist, daß man diese Religion bereits als etwas Fertiges und Dauerndes empfand. Der Jesus ganz erfüllende und noch von Paulus und Markus geteilte Gedanke, daß das Weltende da sei, liegt hinter »Johannes« und Marcion weit zurück. Die Apokalyptik ist zu Ende und die Mystik beginnt. Nicht die Lehre Jesu, auch nicht die paulinische von ihm ist der Inhalt, sondern das Geheimnis des Weltalls, der Welthöhle. Von einem Evangelium ist keine Rede; nicht die Gestalt des Erlösers, sondern das Prinzip des Logos ist Sinn und Mitte des Geschehens. Die Kindheitsgeschichte wird wieder verworfen: ein Gott wird nicht geboren; er ist da und wandelt in Menschengestalt auf Erden. Und dieser Gott ist eine Dreiheit: Gott, der Geist Gottes, das Wort Gottes. Dies heilige Buch des frühesten Christentums enthält zum erstenmal das magische Substanzproblem, das die folgenden Jahrhunderte ausschließlich beherrscht und endlich zum
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