Der Untergang des Abendlandes
mehr erkannt und sich an Äußerlichkeiten des Privatlebens gehalten. In Wahrheit ist die Tyrannis
der Staat
, und sie wird von der Oligarchie im Namen des Standes bekämpft. Deshalb stützt sie sich auf Bauern und Bürger; in Athen waren das um 580 die Parteien der Diakrier und Paralier. Deshalb hat sie die dionysischen und orphischen Kulte zum Nachteil der apollinischen unterstützt; in Attika förderte Peisistratos den Dionysoskult unter den Bauern, [Gercke-Norden, Einl. i. d. Alt.-Wiss. II, S. 202.] in Sikyon verbot um dieselbe Zeit Kleisthenes den Vortrag der homerischen Gesänge; [Busolt, Griech. Geschichte II, S. 346 ff.] in Rom wurde sicherlich noch unter den Tarquiniern die Götterdreiheit Demeter (Ceres), Dionysos und Kore [Vgl. Bd. II, S. 906. Die Fronde und Tyrannis ist mit dem Puritanismus ebenso tief verwandt – dieselbe Epoche, in der politischen statt der religiösen Welt erscheinend – wie die Reformation mit dem Ständestaat, der Rationalismus mit der bürgerlichen Revolution und die »zweite Religiosität« mit dem Cäsarismus.] eingeführt. Ihr Tempel wurde 483 durch Sp. Cassius geweiht, der gleich danach bei einem Versuch, die Tyrannis wieder aufzurichten, umkam. Dieser Cerestempel war das Heiligtum der Plebs und seine Vorsteher, die Ädilen, deren Vertrauensmänner, bevor es Tribunen gab. [G. Wissowa, Religion d. Römer, S. 297 ff.] Die Tyrannen waren wie die Fürsten des abendländischen Barock in einem großen Sinne liberal, wie es unter der späteren Herrschaft des dritten Standes gar nicht mehr möglich ist. Aber damals kam auch in der Antike das Wort in Umlauf, daß das Geld den Mann macht, χρήματ' άνήρ. [Beloch, Griech. Geschichte I, 1, S. 354.] Die Tyrannis des sechsten Jahrhunderts hat den Polisgedanken zu Ende geführt und den staatsrechtlichen Begriff des
Bürgers
, des Politen, des Civis geschaffen, deren Summe ohne Rücksicht auf den Stand das
soma
des Stadtstaates bildet. Als die Oligarchie dann doch wieder siegte, und zwar infolge des antiken Hanges zur Gegenwart, der in der Tyrannis die Neigung zur Dauer fürchtete und haßte, war der Begriff des Bürgers fest vorhanden, und der Nichtpatrizier hatte gelernt, sich dem Rest gegenüber als Stand zu fühlen. Er war eine politische Partei geworden – das Wort Demokratie im spezifisch antiken Sinne bekommt jetzt einen bedeutungsschweren Inhalt – und er geht daran, nicht mehr dem Staat zu Hilfe zu kommen, sondern wie vorher der Adel
der Staat zu sein
. Er beginnt zu zählen – das Geld wie die Köpfe, denn sowohl der Geldzensus wie das allgemeine Wahlrecht sind bürgerliche Waffen; der Adel zählt nicht, sondern wertet; er stimmt nach Ständen. Wie der absolute Staat aus der Fronde und ersten Tyrannis hervorgegangen war, so geht er mit der Französischen Revolution und der zweiten Tyrannis zu Ende. In diesem zweiten Kampfe, der schon Verteidigung ist, tritt die Dynastie auf die Seite der Urstände zurück, um den Staatsgedanken gegen eine neue Standesherrschaft, die bürgerliche, zu schützen.
Zwischen Fronde und Revolution liegt auch die Geschichte des Mittleren Reiches in Ägypten. Hier hat die 12. Dynastie (1990 bis 1790), voran Amenemhet I. und Sesostris I., in schweren Kämpfen gegen die Barone den absoluten Staat begründet. Der erste Herrscher ist, wie ein berühmtes Gedicht dieser Zeit meldet, nur mit Mühe einer Verschwörung am Hofe entgangen. Daß nach seinem zunächst geheimgehaltenen Tode ein Aufruhr drohte, verrät die Lebensbeschreibung des Sinuhet; [Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 281.] der dritte wurde von Palastbeamten ermordet. Aus den Inschriften im Familiengrabe der Grafen Chnemhotep erfahren wir, [Ebenda, § 280 ff.] daß die Städte reich und fast unabhängig geworden waren und Kriege untereinander führten. Sicherlich sind sie damals nicht kleiner gewesen als die antiken Städte zur Zeit der Perserkriege. Auf sie und auf eine Anzahl treugebliebener Großer hat die Dynastie sich gestützt. [Über die Sicherung der Thronfolge vgl. Bd. II, S. 1030.] Sesostris III. (1876–1842) konnte den Feudaladel endlich ganz aufheben. Es gab von da an nur noch einen Hofadel und einen einheitlichen, mustergültig geordneten Beamtenstaat, [Ed. Meyer, § 286.] aber schon jetzt erheben sich Klagen im Tone des Herzogs von Saint Simon, daß die Vornehmen ins Elend geraten und die »Söhne Niemands« zu Rang und Ansehen kommen. [Ebenda, § 283. A. Erman, Die Mahnworte eines ägyptischen Propheten, Sitz. Preuß. Ak.
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