Der Untergang
wollte, als sie in die Arme zu schließen, die Wärme ihres Körpers auf seiner Haut zu
spüren und die Süße ihrer Lippen, und doch nach allem, was Elena ihm erzählt hatte, würde er das
vielleicht nie wieder können. Noch einmal und viel intensiver, mit fast schmerzhaft körperlicher Wucht,
begriff er, was der Ausdruck in Laurus’ Augen vorhin bedeutet hatte. Er hatte ihn erniedrigt, aber gewiss
nicht damit, dass er seine Hand gepackt und ohne Mühe von seinem Arm gelöst hatte.
»Warum musst du meinen Schmerz noch vergrößern, Andreas?«, fragte Elena. »Glaubst du denn, es
macht mir nichts aus?«
»Was? Dass deine Kinder Ungeheuer sind? Dass es ihnen Freude bereitet, Menschen zu quälen und zu
töten?«
»Es vergeht kein Augenblick an keinem Tag, an dem ich nicht daran denke«, antwortete Elena. Ihre
Augen schimmerten feucht, und er sah, dass sie nur noch mit Mühe die Tränen zurückhielt. »Aber es sind
meine Kinder, Andreas. Was soll ich tun?«
Andrej blieb ihr die Antwort auch auf diese Frage schuldig - und was hätte er sagen sollen? Schon bei der
bloßen Erinnerung an die seelenlosen Kreaturen mit den toten Augen, lief ihm ein kalter Schauer über den
Rücken, aber er konnte - zumindest intellektuell - auch Elena verstehen. Vielleicht besser, als er es wollte.
Besser, als er es wahrhaben wollte.
»Beantworte meine Frage«, verlangte Elena. Sie sprach leise, und dennoch schrie sie fast. »Was soll ich
tun? Soll ich sie töten? Soll ich meine eigenen Kinder umbringen?«
»Und was glaubst du, wird aus ihnen?«, gab Andrej zurück, wobei er ihre Frage ganz bewusst nicht
beantwortete. Das konnte er nicht. »Was wird aus ihnen werden, wenn deine Tochter vom Mädchen zur
Frau und deine Söhne von Kindern zu Männern werden? Sie töten jetzt schon grundlos. Nur, weil es ihnen
Freude bereitet.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Elena gequält. »Aber es kann nicht mehr lange dauern. Vielleicht schon dieses
Jahr, vielleicht nächstes, aber dann wird sich erweisen, wozu sie werden. Vielleicht sterben sie. Vielleicht
werden sie auch noch schlimmer, und dann werde ich sie töten müssen. Aber vielleicht werden sie auch so
wie Bason und Rason.«
»Wie meinst du das?«
»Du magst die beiden, nicht wahr?«, fragte Elena. Sie lächelte flüchtig. »Jeder mag sie. Es gibt niemanden,
der ihnen einen Wunsch abschlagen könnte, oder dem sie nicht auf Anhieb sympathisch wären. Das ist
ihre Macht, Andreas. Das Geschenk, das sie vom Schicksal bekommen haben. So, wie ich in der Lage bin,
anderen meinen Willen aufzuzwingen, so erwecken sie Gefühle von Freundschaft und Zuneigung, einfach,
weil sie da sind. Ganz egal, bei wem. Vielleicht werden Laurus’ Kinder ebenso - falls sie den Schritt vom
Kind zum Erwachsenen überhaupt erleben.« Sie schüttelte den Kopf.
»Mag das Schicksal über sie richten. Ich kann es nicht.«
Was sollte er darauf sagen? Konnte er von einer Mutter verlangen, über ihr eigenes Fleisch und Blut zu
richten?
Kaum. »Und wie … soll es weiter gehen?«, fragte er leise.
»Wollt ihr weiter von Stadt zu Stadt ziehen, von Land zu Land, und immer hoffend, dass niemand euer
Geheimnis entdeckt? Willst du weiter zusehen, wie sie unschuldige Menschen töten?«
»Natürlich nicht«, antwortete Elena, ohne ihn anzusehen und mit leiser, fast brechender Stimme. Er
konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn sie blickte zu Boden, aber er spürte, wie sich ihre Augen weiter mit
Tränen füllten. »Es ist auch nicht so, wie du vielleicht glaubst. Sie sind keine … Mörder. Es ist nicht so,
dass sie überall Tod und Verwüstung hinterlassen, wo immer wir hinkommen.«
»Den Eindruck hatte ich nicht«, sagte Andrej. Er fühlte sich schäbig bei diesen Worten, denn er wusste,
wie weh sie Elena tun mussten, aber er konnte sie auch nicht zurückhalten.
»Ich weiß«, sagte Elena. »Es ist schlimmer geworden. Es wird schlimmer, mit jedem Tag, der vergeht, mit
jeder Stadt in die wir kommen. Wir werden eine Entscheidung fällen müssen. Vielleicht habe ich deshalb
so verzweifelt gehofft, dass du der bist, auf den wir seit so langer Zeit warten.«
»Ich werde diese Entscheidung nicht für euch treffen können«, sagte Andrej. Gleichzeitig war ihm klar,
wie lächerlich diese Behauptung war. Er würde sie fällen, ganz gleich, was er tat. Selbst, wenn er nichts
tat. Indem sie ihn in ihr Geheimnis eingeweiht hatte, lag die Verantwortung, ob er schwieg oder diese
Höllenbrut auslöschte, nun ebenso auf seinen Schultern wie auf ihren.
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