Der Untergang
Augenblicken
das kleine Zelt am äußeren Rand des Lagers, zu dem er auch in der vergangenen Nacht schon einmal
vergebens gegangen war.
Diesmal war sein Bewohner anwesend.
Abu Dun war nicht im Zelt, aber er stand reglos, hoch aufgerichtet und in abwartender Haltung daneben,
so, als hätte er gewusst, dass Andrej kam, und geduldig auf sein Erscheinen gewartet. Sein Gesicht, schon
bei Tage eine schwarze Maske, war in der Nacht fast nicht zu erkennen, aber Andrej spürte die Ruhe, die
der Nubier ausstrahlte, gleichzeitig aber auch etwas anderes; eine Bitterkeit, die es ihm fast unmöglich
machte, weiterzugehen.
»Du hast lange gebraucht, Hexenmeister«, sagte Abu Dun.
»Du hast gewusst, dass ich komme.«
»Ich hab’s gehofft«, erwiderte Abu Dun. Er machte ein Geräusch, das Andrej nicht deuten konnte, das
sich aber trotzdem wie ein dünner, glühender Pfeil in seine Brust grub.
»Du hast dich also entschieden.«
»Ja«, antwortete Andrej, dann rasch, fast, als wäre er erschrocken vor seinem eigenen Wort: »Nein. Ich …
ich weiß es nicht, Abu Dun. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«
»Und das aus deinem Mund!«, Abu Dun lachte rau. »Weißt du, wie lange ich mir gewünscht habe, das zu
hören? Andrej, der Unfehlbare, der unsterbliche Hexenmeister, der zugibt, dass er nicht weiter weiß?«
»Mach es mir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist«, bat Andrej. »Verdammt, Abu Dun, ich -«
»Dann mach ich’s dir leichter«, unterbrach ihn Abu Dun. »Du willst hier bleiben. Ich bin nicht überrascht,
falls du das erwartet hast. Ich bin auch nicht enttäuscht. Ich wusste immer, dass es eines Tages so weit
kommen würde. Ich wusste vom ersten Tag an, dass du auf der Suche bist. Und es gehört nun mal zu einer
Suche, dass man eines Tages sein Ziel erreicht.«
Und eben das war es, was Andrej immer noch nicht wusste, weniger denn je zuvor. Hatte er sein Ziel
wirklich erreicht?
Nach allem, was er erlebt, und vor allem von Elena gehört hatte, sollte die Antwort eindeutig »Ja« lauten,
aber war das die Wahrheit? Er hatte etwas gefunden, aber er konnte nicht sagen, ob es das war, was er
hatte finden wollen.
»Ich hab rührselige Abschiedsszenen noch nie gemocht«, fuhr Abu Dun fort, als er keine Antwort bekam.
»Wenn du gekommen bist, um Lebewohl zu sagen, dann tu es und dann geh deiner Wege.«
»Abu Dun -«, begann Andrej.
»Ich jedenfalls werde genau das tun«, fuhr der Nubier unbeeindruckt fort. »Ich wäre schon fort, aber ich
habe auf dich gewartet. Nach so vielen Jahren wäre es undankbar, einfach so zu verschwinden.«
Andrej schwieg auch jetzt. Es war nicht das erste Mal in den vergangen Tagen, dass Abu Dun ihm drohte,
allein fortzugehen, aber diesmal, so erkannte er, meinte der Nubier es ernst. Er wusste mit
unerschütterlicher Sicherheit, dass er Abu Dun nie wieder sehen würde, wenn sich ihre Wege jetzt
trennten.
»Ich hoffe, du wirst hier glücklich, Andrej«, sagte Abu Dun. Jede Spur von Häme oder Spott war aus
seiner Stimme verschwunden. Er meinte, was er sagte, und genau deshalb taten seine Worte auch so weh.
»Ich nehme an, es macht dir nichts aus, wenn ich mir von unserem gemeinsamen Besitz nehme, was ich
brauche«, sagte Abu Dun plötzlich lauter. Als ob Andrej das in diesem Moment interessierte, oder ob es
irgendeine Bedeutung hätte. Doch er vermutete, dass Abu Dun womöglich einfach nur das Thema hatte
wechseln wollen.
»Wo willst du hin?«, fragte Andrej.
Abu Dun hob die Schultern. »Die Welt ist groß. Irgendwo wird sich schon eine Beschäftigung für einen
ehemaligen Sklavenhändler und Schmuggler finden. Die Zeiten sind zwar schlecht, aber man sagt auch,
dass schlechte Zeiten gut für schlechte Menschen sind, hab ich Recht?«
Andrej lachte nicht. Man konnte viel über Abu Dun sagen, aber eines war er gewiss nicht: Ein schlechter
Mensch. Er war ein Mörder, ein Sklavenhändler, Schmuggler, Dieb und Räuber, aber tief unter dem
Gebirge von Untaten, das er im Laufe eines langen Lebens angehäuft hatte, schlug das Herz eines
aufrechten Mannes - trotz allem.
»Du könntest noch eine Weile hier bleiben«, sagte er. »Ich bin sicher, dass Laurus nichts dagegen hätte.«
Abu Dun lachte. Es klang böse. »Und wenn, würde es ihm nichts nutzen, nehme ich an«, sagte er,
schüttelte aber zugleich auch den Kopf. »Nein, nein, lass gut sein, Andrej.
Vielleicht sehen wir uns einmal wieder, aber im Moment ziehe ich es vor, zu gehen. Selbst ich merke
irgendwann, wenn ich nicht erwünscht bin. Ich denke, es
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