Der Unterhändler
sah ärgerlich auf die über die ganze Tischplatte verstreuten Berichte.
Es ist ein langer, schmaler Raum, sechs mal achtzehn Meter, und der Schreibtisch des Generalsekretärs steht an dem der Tür gegenüberliegenden Ende; er sitzt mit dem Rücken zur Wand, und die Fenster zum Platz sind alle zu seiner Linken, hinter Stores und gelbbraunen Veloursvorhängen. Die Mitte des Raums nimmt der übliche Konferenztisch ein, der mit dem quer dazu stehenden Schreibtisch ein T bildet.
Im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger hatte Gorbatschow sich für eine helle, freundliche Einrichtung entschieden; der Konferenztisch ist wie der Schreibtisch aus hellem Buchenholz, und auf beiden Seiten stehen je acht Stühle, die trotz ihrer geraden Lehnen bequem sind. Auf diesem Tisch hatte Gorbatschow die Berichte ausgebreitet, die sein Freund und Kollege, Außenminister Eduard Schewardnadse, zusammengetragen hatte, auf dessen Bitten er widerstrebend aus dem Urlaub in Jalta auf der Krim zurückgekehrt war. Es wäre ihm lieber gewesen, dachte er erbost, mit seiner Enkelin Aksaina im Meer zu planschen, als in Moskau zu sitzen und solchen Blödsinn zu lesen.
Es waren über sechs Jahre seit jenem eisigen Märztag im Jahre 1985 vergangen, an dem Tschernenko schließlich das Zeitliche gesegnet hatte und er selbst mit fast beunruhigender Geschwindigkeit – obwohl er darauf hingearbeitet und sich vorbereitet hatte – an die Spitze gelangt war. Sechs Jahre lang hatte er versucht, das Land, das er liebte, am Kragen zu packen und es für die letzte Dekade des 20. Jahrhunderts in eine Verfassung zu bringen, die es ihm gestattet hätte, dem kapitalistischen Westen ebenbürtig gegenüberzutreten, mit ihm gleichzuziehen und über ihn zu triumphieren.
Wie alle guten Russen bewunderte er den Westen halb und halb und grollte ihm andererseits von ganzem Herzen; wegen seines Wohlstands, seiner Finanzmacht, seiner an Überheblichkeit grenzenden Selbstsicherheit. Anders als die meisten Russen wollte er sich einfach nicht damit abfinden, daß sich die Verhältnisse in seinem Heimatland nie ändern würden, daß Korruption, Faulheit, Bürokratie und Lethargie feste Bestandteile des Systems waren, es immer gewesen waren und immer sein würden. Schon als junger Mann hatte er gewußt, daß er genügend Tatkraft besaß, um die Dinge zu ändern, wenn er nur die Chance dazu bekam. Das war seine Triebfeder gewesen, in all den Jahren des Studiums und der Parteiarbeit in Stawropol – die Überzeugung, daß er eines Tages seine Chance bekommen würde.
Seit sechs Jahren hatte er sie nun, und ihm war klargeworden, daß sogar er den Widerstand und die Trägheit unterschätzt hatte. Die ersten Jahre waren eine Zitterpartie gewesen; er hatte auf einem äußerst dünnen Seil getanzt und wäre ein dutzendmal beinahe abgestürzt.
Als erstes hatte er die Partei gesäubert, sie von allen Unbelehrbaren und Unnützen befreit … nun ja, von fast allen. Jetzt wußte er, daß er das Politbüro und das Zentralkomitee beherrschte, wußte, daß die Parteisekretariate überall in den Teilrepubliken der Union mit seinen Parteigängern besetzt waren, die seine Überzeugung teilten, daß die Sowjetunion nur dann wirklich mit dem Westen konkurrieren konnte, wenn sie wirtschaftlich erstarkte. Das war der Grund, warum die meisten seiner Reformen keine moralischen, sondern wirtschaftliche Fragen betrafen.
Als überzeugter Kommunist glaubte er ohnehin, daß sein Land dem Westen moralisch überlegen war, sah also keine Notwendigkeit, es zu beweisen. Aber er war nicht töricht genug, sich hinsichtlich der wirtschaftlichen Stärke der beiden Lager etwas vorzumachen. Die derzeitige Ölkrise, der er sich durchaus bewußt war, verlangte gewaltige Investitionen in Sibirien und der Arktis, und das bedeutete, daß an anderen Stellen gespart werden mußte. Das wiederum führte zum Nantucket-Vertrag und zu der unvermeidlichen Kraftprobe mit seinem eigenen militärischen Establishment.
Wie jeder sowjetische Spitzenpolitiker wußte er, daß die drei Säulen der Macht die Partei, die Armee und der KGB waren und daß sich niemand mit zwei von ihnen gleichzeitig anlegen konnte. Die ständigen Auseinandersetzungen mit seinen Generälen waren schlimm genug, aber daß ihm nun auch noch der KGB in den Rücken fiel, war unerträglich. Die Berichte auf seinem Tisch, die der Außenminister aus westlichen Medien hatte sammeln und übersetzen lassen, konnte er nicht gebrauchen, am allerwenigsten jetzt, wo die
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