Der Ursprung des Bösen
Angreifer wieder zu sich.
»Hilfe!«, schrie Janusz.
In dieser Sekunde, genau in dieser Sekunde, wurde ihm klar, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Unmittelbar vor der Tür stand ein weiterer Mann und zielte mit einer automatischen Waffe auf ihn. Janusz erkannte ihn sofort. Es war einer seiner Verfolger aus Bordeaux. Der Mörder vom Strand von Guéthary.
Der Mann in Schwarz hob langsam den Arm.
»Hilfe!«
Der erste Verfolger hatte sich wieder aufgerappelt und taumelte aus der Toilettenkabine. Er hielt sich die Hand vor das Gesicht. Mit einem geistesgegenwärtigen Tritt schloss Janusz die Tür, kauerte sich auf die Schüssel, vergrub den Kopf in den Armen und schrie immer weiter:
»Hilfe!«
Doch nichts geschah. Weder fiel ein Schuss, noch drang eine Kugel durch die Tür. Und Schmerz empfand er auch nicht. Absolut nichts. Und in diesem Augenblick sagte ihm sein Instinkt, dass die Männer draußen verschwunden waren.
Mit der freien Hand wischte Janusz sich ab und zog in einem letzten Aufbäumen von Würde die Hose wieder hoch. Dabei schrie er ununterbrochen mit schriller Stimme um Hilfe.
Schließlich hörte er, wie jemand durch den Hof rannte. Man kam ihm zu Hilfe. Er betätigte die Spülung und brach in hysterisches Lachen aus. Tatsächlich! Er lebte noch! Nachdem er die Kabine verlassen hatte, schaffte er es mit viel Mühe, die Finger der rechten Hand aus dem Kabelbinder zu befreien und die Schlinge unter dem Hemdkragen zu verbergen. Um keinen Preis wollte er den Angriff erklären müssen.
Als eine Tür aufging, fuhr er entsetzt herum. Noch hatte er seine Panik nicht ganz überstanden. Doch der Anblick eines gegerbten Gesichts und eines Rauschebarts beruhigte ihn. Es war nur sein Komplize in Sachen Darmprobleme.
Er winkte dem Mann beruhigend zu und fuhr fort, seine Hose zuzuknöpfen. Seine rechte Hand war kreideweiß und schmerzte. Er beugte sich über ein Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dabei spürte er den Griff des Messers in seiner Hosentasche. Dass er nicht daran gedacht hatte, es zu benutzen! Er hatte es tatsächlich völlig vergessen!
T e gusta?«
Die Augen des Gefangenen sind weit aufgerissen vor Angst. Seine Antwort ist ein Schrei. Er atmet durch den weit geöffneten, von einer Mundbirne gespreizten Mund. Das Folterinstrument stammt aus dem Ersten Weltkrieg.
»Te gusta?«
Der Mann versucht den Kopf zu bewegen, aber eine Schlaufe fesselt ihn an die Stuhllehne. Er erbricht Blut. Sein Gesicht besteht nur noch aus zertrümmerten Knochen und Knorpeln.
Er kann den Blick nicht von der Schlange wenden, die sich um die Hand seines Henkers gerollt hat.
»Te gusta?«
Es ist eine Nacanina oder Falsche Wasserkobra, die aus den argentinischen Sümpfen stammt. Sie ist schwarz-golden und nicht besonders giftig, bläht aber ihren Hals auf, wenn sie sich angegriffen fühlt.
Jetzt ist sie nur noch wenige Zentimeter vom Mund des Gefangenen entfernt. Der Mann grunzt, heult und zappelt mit weit geöffnetem Mund. Die Schlange windet und krümmt sich. Ihr dreieckiger Kopf zuckt blitzartig nach vorn und erwischt den Häftling an der Lippe. Das Tier hat Angst. Es möchte sich verstecken, es sucht nach einer dunklen, feuchten, vertrauten Öffnung.
»Te gusta?«
Wieder brüllt der Mann auf, doch sein Schrei bricht plötzlich ab. Die Hand des Henkers hat die Schlange in seinen Mund gestopft. Sofort ist das Reptil in seine Speiseröhre geglitten, wo es sich verstecken kann. Ein Meter Muskeln, Schuppen und laues Blut verschwindet in der Kehle des Opfers, das qualvoll erstickt.
Schreiend wachte Anaïs auf. Die Stille im Zimmer raubte ihr den Atem. Ringsum herrschte finstere Nacht. Wo zum Teufel war sie? Die Stimme ihres Vaters kam ganz aus der Nähe. Te gusta? Das Pfeifen der Schlange schien noch im Raum zu hängen. Anaïs schluckte und schluchzte auf. Ihr war, als sähe sie den Gehstock und die unterschiedlichen Schuhe im Schatten. Es war das Zimmer ihres Vaters.
Nein! Sie befand sich in einem Hotelzimmer. Biarritz. Ihre Ermittlungen. Als ihr einfiel, warum sie hier war, fühlte sie sich etwas wohler. Trotzdem verfolgte der Traum sie noch immer. Die Mundbirne sperrte ihre Kiefer schmerzhaft auseinander, die Nacanina bewegte sich in ihrer Kehle. Sie hustete und massierte sich den Hals.
Allmählich klärte sich ihr Blick, doch auch die Erinnerungen kehrten zurück.
Erinnerungen, die ihre Nächte heimsuchten. Sie tastete auf dem Nachttisch nach ihrer Armbanduhr. Die Uhrzeit
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