Der Ursprung des Bösen
schauderten. Der ganze Raum schien in Schwingungen zu geraten.
Janusz begriff schnell. Seit mehr als acht Stunden hatten die Männer und Frauen keinen Alkohol mehr getrunken. Sie brauchten jetzt weder Butterbrote noch Kaffee, sie brauchten Wein. Manche klammerten sich verzweifelt an ihre Tassen, andere gerieten in so heftige Zuckungen, dass ihre Stühle über den Boden polterten.
In der psychiatrischen Klinik hatten die während der Nacht eingesammelten Penner unter den gleichen Symptomen gelitten. Die Gier nach Rotwein zwang sie zu Grimassen, über die alle anderen lachten. Tatterich nannten sie es.
Janusz warf einen Blick in die Runde. Der halbe Saal war befallen, die andere Hälfte amüsierte sich köstlich und skandierte immer wieder: »Tat-te-rich! Tat-te-rich!« Er nahm sein Tablett und stand auf. Die Krise, die sich da anbahnte, würde die meisten Helfer beschäftigen. Genau der richtige Moment, die Kurve zu kratzen.
Er stellte gerade die Tasse in einen Geschirrständer, als er hinter sich eine Stimme hörte:
»Jeannot?«
Janusz drehte sich um. Vor ihm stand ein kleiner Mann mit einer schwarzen Mütze und einer Daunenjacke, die um die Taille mit einer Schnur befestigt war. In seinen Augen entdeckte Janusz das, worauf er so lange gewartet hatte: Der Mann schien ihn zu kennen.
»Bist du das, Jeannot?«
»Ich heiße Janusz.«
»Sage ich ja! Jeannot!« Der Mann lachte. »Guter Gott, bist du jetzt übergeschnappt oder was?«
Janusz starrte ihn an. Das Gesicht des Mannes sagte ihm nichts.
»Shampoo«, stellte sein Gegenüber sich vor und zog sich die Mütze vom Kopf. Er war vollständig kahl. Grinsend rieb er sich den Schädel.
»Shampoo, kapiert? Sag mal, bist du eigentlich komplett bescheuert? Hierher zurückzukommen!«
»Wieso?«
»Himmel, du hast wohl wieder heftig gebechert!«
»Ich … Ich saufe?«
»Wie ein Loch, mein Lieber.«
»Und warum sollte ich nicht zurückkommen?«
»Na, wegen der Bullen und dem ganzen Kram.«
Die Unruhe hinter ihnen wurde immer stärker. Allmählich wurden alle richtig wach – und landeten in ihrem üblichen Albtraum.
Janusz zerrte Shampoo am Ärmel in eine stille Ecke neben dem Tisch mit den Thermoskannen und der Marmelade.
»Ich kann mich an nichts erinnern. Kapierst du?«
Der Kahlkopf kratzte sich ernst den blanken Schädel.
»Früher oder später passiert das jedem von uns.«
»Woher kennen wir uns?«
»Von der Emmaus-Gemeinschaft. Du hast da gearbeitet.«
Daher kam es also, dass ihn auf der Straße niemand erkannte. Janusz war kein herrenloser Hund. Er hatte ein Körbchen. Und das stand im Haus der Emmaus-Gemeinschaft von Marseille. Er dachte an den Mann, den er im Zug von Biarritz nach Bordeaux getroffen hatte. Daniel Le Guen. Er gehörte dazu. Janusz ärgerte sich, dass er nicht erst dieser Spur gefolgt war.
Der Lärm in der Kantine wurde ohrenbetäubend. Sozialarbeiter rannten herbei und öffneten die Tore: Die Tiere mussten raus. Janusz wollte das Gedränge ausnutzen.
»Lass uns verschwinden«, flüsterte er.
»Aber ich habe noch nicht gefrühstückt!«
»Ich lade dich draußen zum Kaffee ein.«
Plötzlich wurde er gegen die Spülsteine gedrängt. Ein Menschenauflauf, wahrscheinlich wieder einmal eine Prügelei. Janusz packte Shampoo am Arm und schob ihn entschlossen nach draußen.
»Los!«
Im Hinausgehen warf er einen kurzen Blick auf die Menge. Nein, es war keine Rauferei. Eine Frau war zusammengebrochen. Reglos lag sie auf dem Boden. Janusz bahnte sich mit Ellbogen einen Weg durch die Menge, kniete neben ihr nieder und untersuchte sie kurz. Sie lebte noch, verströmte aber einen starken Geruch nach Äpfeln. Aceton. Das war die Erklärung für ihre Ohnmacht. Die Frau litt unter einer Ketoazidose und lag im diabetischen Koma. Entweder hatte sie vergessen, Insulin zu spritzen, oder seit mehreren Tagen nichts mehr gegessen. Auf jeden Fall musste man ihr schnellstmöglich eine Kochsalzlösung injizieren, später brauchte sie dann dringend Insulin.
Bei dieser Diagnose wurde Janusz klar, dass er tatsächlich Arzt war. Und wie um die Erkenntnis zu unterstreichen, krähte Shampoo hinter ihm:
»Lasst ihn. Der Mann ist ein Doc.«
Die Umstehenden redeten alle durcheinander. Jeder hatte einen anderen guten Rat.
»Lasst sie in eine Plastiktüte atmen.«
»Ich würde zu gern eine Mund-zu-Mund-Beatmung bei ihr machen.«
»Ruf doch einer die Bullen!«
Endlich kamen die Sozialarbeiter. Janusz stand auf und zog sich diskret zurück. Sicher würde man
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