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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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interessierte sie nicht, nur das Datum. 18. Februar 2010. Sie musste den Lahmen vergessen. Sie war kein kleines Mädchen mehr. Sie war eine Frau. Und Polizistin.
    Die Hitze kam ihr unerträglich vor. Als sie aufstehen und den Heizkörper kontrollieren wollte, blieb sie am Betttuch kleben. War das etwa Schweiß? Anaïs suchte nach der Nachttischlampe und knipste sie an.
    Das Bett war voller Blut.
    Sie begriff sofort. Ihre Arme. Wieder einmal hatte sie sie zerschnitten, zerfetzt und übel zugerichtet. Und jetzt war es sogar im Tiefschlaf geschehen.
    Vielleicht wäre sie in Tränen ausgebrochen, wäre sie nicht wie gelähmt gewesen. Doch nach und nach meldete sich ihr Polizistengehirn. Womit hatte sie sich so verletzt? Schließlich fand sie in den Falten ihrer blutigen Betttücher eine Glasscherbe. Sofort wanderte ihr Blick zum Fenster. Es war intakt. Im Badezimmer aber wurde sie fündig. Ein Oberlicht war zersplittert, der Boden mit Glasscherben bedeckt. Sie nahm ein Handtuch vom Haken und warf es auf den Boden, um ihre nackten Füße zu schützen. Dann trat sie ans Waschbecken. Mit vertrauten, häufig wiederholten Bewegungen ließ sie sich kaltes Wasser über die Arme laufen. Dann deckte sie die Wunden mit Toilettenpapier ab. Toilettenpapier war genau das Richtige, um Blut zu stillen. Sie hatte keine Schmerzen. Sie spürte überhaupt nichts. Nein, das stimmte nicht: Sie fühlte sich gut. Wie jedes Mal.
    Mit Parfüm desinfizierte sie die Verletzungen, ehe sie erneut Toilettenpapier um ihre Arme wickelte. Die Geste erschien ihr wie ein Symbol. Sie war eben einfach nur Scheiße!
    Wütend auf sich selbst kehrte sie ins Zimmer zurück, zog das Bett ab und ließ die besudelten Tücher auf dem Boden am Fußende liegen. Sie waren der Beweis für ihr Verbrechen. Erschrocken hielt sie inne. Wieder hörte sie die Stimme aus ihrem Albtraum. Es war die Stimme ihres Vaters: Te gusta?
    Genau das war der Grund dafür, dass sie sich selbst verletzte.
    Sie wollte dieses Blut loswerden, das sie anekelte.
    Sie wollte sich aus ihrem eigenen Stammbaum ausmerzen.
    Mit dem Rücken zur Wand setzte sie sich auf die glücklicherweise sauber gebliebene Matratze, schlang die Arme um die Knie und schaukelte vor- und rückwärts wie eine Geisteskranke in der Isolationszelle.
    Mit leiser Stimme betete sie auf Spanisch vor sich hin. Sie starrte ins Leere, während sie unablässig die gleichen Worte murmelte:
    Padre nuestro,
    que estás en el cielo,
    santificado sea tu nombre;
    venga a nosotros tu reino;
    hágase tu voluntad
    en la tierra como en el cielo …

U m 7.30 Uhr ertönte die Sirene. Raus zum Frühstück! Und zwar ein bisschen plötzlich!
    Janusz trottete hinter der Menge her. Nach seiner nächtlichen Sitzung auf dem Klo hatte man ihm geholfen. Die Sozialarbeiter verabreichten ihm eine Imodium gegen den Durchfall und lauschten seinem Bericht. Janusz behauptete, es habe sich um einen simplen Streit zwischen Pennern gehandelt. Die Helfer ließen sich nicht täuschen. Sie verdächtigten die Rumänen, doch Janusz schwor Stein und Bein, dass sie es nicht gewesen waren. Man schickte ihn mit dem Versprechen ins Bett, sich am nächsten Morgen um den Fall zu kümmern. Eventuell wollte man auch die Polizei verständigen.
    Janusz konnte nicht wieder einschlafen. Er musste an die Mörder im feinen Zwirn denken, an den Kabelbinder, an den Schalldämpfer auf der Pistole. Wie hatten sie ihn gefunden? Waren sie ihm seit Biarritz auf den Fersen gewesen? Oder war er hier in der Unterkunft erkannt worden? Und wenn ja, von wem?
    Zumindest eine Antwort hatte diese Nacht für ihn bereitgehalten. Seit dem Anschlag von Guéthary fragte er sich, ob man auch ihm ans Leben wollte. Nun bestand kein Zweifel mehr – er stand ebenfalls auf der Liste.
    Janusz hatte sich geschworen, gleich in der Morgendämmerung zu verschwinden. Um keinen Preis wollte er weitere Fragen beantworten. Er wollte auch keinen Kontakt mehr zur zivilisierten Welt, schon gar nicht zur Polizei. Wahrscheinlich hing sein Bild ohnehin schon in allen Dienststellen. Vermutlich auch in den Unterkünften und Essensausgaben, wo man ihn jederzeit erwartete. Er musste hier weg, und zwar so bald wie möglich.
    Die Tore der Unterkunft wurden erst um 8.30 Uhr geöffnet. Janusz saß nachdenklich bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Brot, als um ihn herum eine merkwürdige Unruhe entstand. Der Mann, der neben ihm saß, begann zu zittern. Auch andere schlotterten sichtbar. Die Leute bebten, vibrierten und

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