Der Ursprung des Bösen
Nasenknochen als auch Dreiecks- und Flügelknorpel entfernt – im Prinzip also alles, was für die Form der Nase zuständig ist.«
Anaïs drückte weiter den Gashebel durch. Die Geschwindigkeit zwang sie zur Konzentration. Ihre Augen brannten, und ihre Kehle war trocken, doch ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Der späte Autopsiebericht hatte nichts mit den Prüfungen durch die Militärs zu tun.
»Wir kommen Sie darauf, dass es die Mörder waren, die zurückgekehrt sind?«
»Wer sonst?«
»Aber warum hätten sie dieses Risiko eingehen sollen? Und warum haben sie die Knochen gestohlen?«
»Ich weiß es nicht. Ich stelle sie mir als eine Art Jäger vor. Vielleicht sind sie zurückgekehrt, um eine Trophäe mitzunehmen.«
»Eine Trophäe?«
»Im Krieg haben amerikanische Soldaten ihren japanischen Opfern die Ohren abgeschnitten oder Zähne herausgebrochen. Und aus menschlichen Oberschenkelknochen und Schienbein machte man Brieföffner.«
Martenot sprach jetzt schneller. Die unsichtbaren Mörder schienen gleichzeitig Furcht und Faszination bei ihm auszulösen.
»Um welche Uhrzeit erfolgte dieser … Eingriff?«
»Gegen acht Uhr abends. Die Leichen wurden um 17.00 Uhr aus dem Krankenhaus von Bayonne abtransportiert und kamen etwa um acht in Rangueil an. Das Leichenschauhaus wurde offenbar nicht überwacht.«
Anaïs konnte sich nicht vorstellen, dass professionelle Scharfschützen, die ein Opfer auf eine Entfernung von über fünfhundert Metern treffen konnten, ein derartiges Risiko eingingen, um eine Handvoll Knochen mitzunehmen. Waren sie wirklich auf Trophäen aus?
»Wer wusste von dem Leichentransport?«
»Eigentlich alle. Rangueil ist das einzige gerichtsmedizinische Institut der Umgebung.«
»Um welche Uhrzeit sollte die Obduktion beginnen?«
»Eigentlich gleich nach dem Eintreffen der Leichen. Ich weiß wirklich nicht, wie den Eindringlingen dieser Coup gelungen ist.«
»Mit welcher Art Werkzeug haben sie gearbeitet?«
»Laut Gerichtsmediziner war es ein Jagdmesser mit gezahnter Stahlklinge.«
»Wurde das Personal des gerichtsmedizinischen Instituts vernommen?«
Martenot ließ seiner schlechten Laune freien Lauf.
»Was glauben Sie eigentlich, was wir seit drei Tagen hier tun? Wir haben im Leichenschauhaus das Unterste nach oben gekrempelt und einen ganzen Haufen winziger organischer Fragmente gefunden, aber das ist an einem solchen Ort wohl normal. Jedes einzelne Stück haben wir analysiert und identifiziert, aber nicht einen einzigen unbekannten Fingerabdruck gefunden und auch kein Haar, das nicht entweder zu einer der Leichen oder zum Personal gehörte. Vielleicht haben wir es mit einem Phantom zu tun.«
»Und warum haben Sie mich jetzt angerufen?«
»Weil ich Ihnen vertraue.«
»Wissen Ihre Vorgesetzten von diesem Telefonat?«
»Weder meine Vorgesetzten noch der Ermittlungsrichter in Bayonne. Und auch nicht der Richter im Fall Philippe Duruy.«
»Le Gall? Hat er Sie kontaktiert?«
»Heute Nachmittag. Aber Mauricet habe ich noch nicht angerufen.«
Anaïs lächelte. Sie hatte einen Verbündeten gefunden.
»Danke.«
»Keine Ursache. Wer etwas Neues erfährt, ruft den anderen an, okay?«
»Einverstanden.«
Sie legte auf und starrte auf die unterbrochene Fahrbahnmarkierung. Die hellen und dunklen Fragmente rasten mit geradezu hypnotischer Geschwindigkeit vorbei. Ein stroboskopartiger Film aus unzusammenhängenden Einzelbildern. Und doch enthielt dieser unablässige Mahlstrom ein Bild, das immer wiederkehrte. Es war eine Metzgerei, in der Blutpfützen und Fleischreste die weißen Fliesen besudelten.
Aber das Fleisch in ihrer Halluzination stammte von einem Menschen.
J anusz und Shampoo stemmten sich gegen den Wind. Sie wanderten in südwestliche Richtung. Der Kahlkopf kannte eine Baustelle am Ende der Decks, zwischen der Cathédrale de la Mayor und dem Viertel Panier, wo man sich ausgezeichnet über Nacht verstecken konnte. Doch zuvor wollte er seine Kartons abholen, die er im Container einer Gärtnerei in der Nähe der Vieille-Charité deponiert hatte.
»Damit wirst du wunderbar schlafen!«
Janusz folgte, ohne etwas wahrzunehmen. Das Gespräch mit Le Guen hatte ihm den Rest gegeben. Ehe er Psychiater und davor Obdachloser wurde, war er also Maler gewesen – oder zumindest ein Künstler. Die neue Information gab ihm nicht das Gefühl voranzukommen, sondern in einem Chaos zu versinken.
»Ist es noch weit?«
»Wir sind gleich da.«
Janusz wünschte sich nur noch eins: einschlafen
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