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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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und nie mehr aufwachen. Er wollte zu einer Leiche in Lumpen werden, die man auf irgendeinem Armenfriedhof verscharren würde. Ein anonymes Grab neben den letzten Ruhestätten von »Titi«, der »Eule« und »Bioman«.
    Janusz sah sich um. Die Umgebung hatte sich verändert. Hier erinnerte nichts mehr an die breiten Straßen, auf denen er seit dem Vortag unterwegs war. Stattdessen befanden sie sich in einem Gewirr aus winzigen Gassen, das an süditalienische Städte erinnerte, an Neapel, Bari oder Palermo.
    »Wo sind wir?«
    »Im Viertel Panier.«
    In einer Straße namens Rue des Repenties entdeckte Janusz einen Laden, der sich Plus belle la vie nannte. Der Name erinnerte ihn an eine Fernsehserie, die von fast allen Patienten seiner Station sehr geliebt wurde. Vermutlich war das Viertel Schauplatz der Serie.
    Trotz seiner Müdigkeit, der Kälte und der Angst fühlte Janusz sich plötzlich fast geborgen. Das Viertel wirkte wohltuend intim. An den Fenstern hing Wäsche, altmodische Laternen verströmten ein weiches Licht. Kühlaggregate von Klimaanlagen an den Fassaden sorgten für einen mediterranen, ja fast tropischen Eindruck.
    Sie überquerten Plätze, kletterten steile Gassen hinauf und eilten durch enge Steinkorridore.
    »Wir sind da!«
    Shampoo wies auf eine kleine Grünanlage. Rasch stieg er über die Einzäunung, kroch unter die Büsche, unter denen die Container für organischen Abfall versteckt waren, und holte mehrere große, zusammengefaltete Kartons heraus.
    »Dein Bett, Jeannot. Fast so gut wie eine Latexmatratze.«
    Shampoo schob ihm die Kartons unter die Arme. Der Rückweg ging steil bergab. Wegen des Mistrals waren kaum noch Menschen auf den Straßen. Sie liefen die Avenue Schumann entlang, dann den Boulevard des Dames und unterquerten die Autobahn. Auf der anderen Seite lagen die Docks und das Meer. Dazwischen öffnete sich eine mehrere Meter tiefe Baugrube, die sich über viele Kilometer hinzog.
    An diesem Graben wanderten Janusz und Shampoo entlang. Der Kahlkopf warf die Flasche fort, die er inzwischen geleert hatte, und erging sich in einer Schimpftirade gegen den Feind dieser Nacht.
    »Dem Mistral entkommt man nicht«, schrie er zwischen zwei heftigen Böen. »Er braust das Rhônetal hinunter, um uns umzubringen. Er bläst dir rund um die Uhr ins Gesicht. Er geht dir unter die Haut, bis dein letzter Knochen eiskalt ist. Er sucht unter den Rippen nach deinem Herzen, um es anzuhalten. Bei Mistral fallen die Temperaturen um zwei bis drei Grad. Zusammen mit der feuchten Luft vom Meer ist das wie eine Falle, die sich in der Nacht langsam um dich herum schließt. Beim Aufwachen zuckst du unter deinen Kartons wie ein Fisch auf dem Trockenen. Und wenn es zufällig dann auch noch regnet, wachst du sowieso nicht mehr auf.«
    Mit einem Mal blieb Shampoo stehen. Janusz blickte nach unten und entdeckte, was ihn erwartete. Auf dem Grund der Baugrube bewegte sich etwas. Es sah aus wie kleine Wellen auf einem gigantischen Wassergraben. Bei näherem Hinsehen entpuppten die Formen sich als Menschen, die dabei waren, ihre Schlafsäcke, Kartons und Planen auszubreiten. Andere wärmten sich an einem kleinen Kohlenbecken. Man hörte Lachen, Knurren und kehlige Geräusche.
    Gerade wollten sie hinuntergehen, als Shampoo Janusz am Arm packte.
    »Versteck dich!«, zischte er.
    Der Kleinlieferwagen des Sozialdienstes näherte sich. Janusz und Shampoo gingen hinter einer Baubaracke in Deckung. Zwei Männer in Sicherheitskleidung waren bereits auf dem Weg in die Grube, um die Männer zu überzeugen, mit ihnen in die Unterkunft zu fahren. Sie verschenkten Zigaretten und gaben sich als gute Freunde.
    »Scheißkerle«, knurrte Shampoo. »Sie wollen uns alle ins Warme bringen. Denen geht der Arsch auf Grundeis, dass einer von uns erfriert.«
    Janusz hätte alles darum gegeben, mit in die Wärmestube fahren zu dürfen und sich in einem Bett zu verkriechen, wo er schlafen und vergessen konnte.
    »Lass uns hier verschwinden«, flüsterte sein Kumpel. »Ich kenne noch ein anderes Versteck.«
    Müde gingen sie die Straße wieder hinauf. Laternen und helleren Stellen wichen sie aus. Mechanisch und mit starrem Blick setzte Janusz einen Fuß vor den anderen. Seine Beine waren steif, seine Arme wie gelähmt. Shampoo kannte nicht nur ein anderes Versteck – er kannte alle. Unter Brücken und Torbögen, in Parkhäusern und in vollgepinkelten Nischen. Aber alle waren längst besetzt. Jedes Mal fanden sie eng aneinandergedrängte Körper,

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