Der Ursprung des Bösen
Die Mörder waren auf die linke Seite der Seine hinübergewechselt.
»Bitte sehr.«
Der Galerist legte die Liste auf den Schreibtisch.
»Haben Sie einen Marker?«, fragte Anaïs.
Pernathy gab ihr einen orangefarbenen Highlighter. Auf der Liste standen etwa zwanzig Namen, die meisten Adressen befanden sich in Paris. Anaïs markierte die Adressen von Whalid El-Khoury in der Avenue Foch und die von Simon Amsallem in der Nähe der Avenue Victor Hugo. Wer mochte der nächste sein? Ein Blick auf den Tracker zeigte an, dass die Mörder den Seine-Kais in Richtung des Boulevard Saint-Germain folgten.
»Wollte Narcisse sonst noch etwas von Ihnen?«, erkundigte sie sich bei Pernathy.
»Nein, er ist mit seiner Liste abgezogen, und das war’s.«
»Sonst war heute Morgen niemand hier?«
»Nein.«
Irgendetwas stimmte da nicht. Wenn die Kerle Freire hätten erschießen wollen, hätten sie es längst getan. Worauf warteten sie? Wollten sie wissen, wonach er suchte? Und er selbst – warum wollte er seine Gemälde sehen? Vielleicht, weil sie eine Information enthielten? Ein Geheimnis, das Narcisse selbst hineingemalt hatte? Ein Geheimnis, das er vergessen hatte und wiederfinden wollte ?
Der Q7 fuhr immer noch. Ging man nach der Liste, hätten sie vor dem Haus von Hervé Latannerie in der Rue Surcouf Nummer 8 im 7. Arrondissement halten müssen, doch sie fuhren an dieser Straße vorüber und erreichten die Place des Invalides.
»Hat Narcisse Ihnen sonst noch irgendetwas gesagt?«
»Nein. Oder doch. Er hat mir Fragen über Gustave Courbet gestellt.«
»Worum ging es?«
»Er interessierte sich für eines von dessen Selbstporträts mit dem Namen Der Verletzte .«
»Bitte etwas genauer. Ich möchte Wort für Wort wissen, wonach er gefragt hat.«
»Er wollte wissen, was ein Repentir ist.«
»Gut, dann frage ich Sie das Gleiche.«
»Es ist ein Bild, das der Maler entweder stark korrigiert oder sogar übermalt.«
In ihrem Nacken kribbelte es. Sie näherte sich einem wichtigen Punkt.
»Ist Der Verletzte ein solches Repentir?«
»Eines der berühmtesten. Man hatte sich immer schon gefragt, warum Courbet sich als sterbenden Mann unter einem Baum mit einer Wunde im Herzen darstellte. In den 1970er Jahren hat man das Gemälde geröntgt und festgestellt, dass der Maler sich ursprünglich mit seiner damaligen Verlobten im Arm abgebildet hatte. Nachdem das Mädchen ihn verließ, hat er das Gemälde umgestaltet und sich als tief im Herzen Getroffenen gemalt. Das Symbol spricht für sich.«
Ein Gedanke durchzuckte Anaïs. Narcisses Gemälde waren also Repentirs. Unter seine Selbstporträts hatte er etwas anderes gemalt. Ein Geheimnis, das er herauszufinden versuchte und das wohl auch die Männer in Schwarz interessierte. Narcisse wollte vermutlich alle seine Bilder abholen, um sie röntgen zu lassen.
Das iPhone! Die Jäger befanden sich in der Rue du Bac und hielten an der Ecke der Rue de Montalembert an. Anaïs konsultierte die Liste. Ein gewisser Sylvain Reinhardt wohnte in dieser Straße, in der Nummer 1.
Sie wollte bereits auf die Straße stürmen, als ihr etwas einfiel.
»Haben Sie vielleicht eine Abbildung des Verletzten ?«
»Gut möglich. Vermutlich in einer Monografie. Ich …«
»Holen Sie sie.«
»Aber …«
»Machen Sie schnell!«
Pernathy verschwand. Anaïs versuchte gar nicht mehr, ihre Gedanken zu ordnen. Sie folgte nur noch ihrer Intuition.
»Hier!«
Pernathy hielt ihr einen aufgeschlagenen Bildband hin. Der Verletzte lag unter einem Baum. Sein Mantel war wie eine Decke über ihn gebreitet. Über der Szene flirrte ein goldenes, wie durch Blätter gefiltertes, feierliches Licht. Der Kopf des Mannes ruhte auf der schwarzen Baumrinde, mit der linken Hand umfasste er eine Falte des Stoffs, die Rechte war unter dem Mantel verschwunden.
Auf der linken Seite des weißen Hemdes breitete sich ein roter Fleck aus. Neben dem Maler lag ein Schwert.
Anaïs reagierte als Polizistin. Für sie war das Bild ein Tatort und die Klinge ein Köder. Das Opfer wollte seinen wahren Mörder vor den Augen der anderen verbergen. Es war nicht etwa ein Rivale, mit dem er sich duelliert, sondern eine Frau, die ihm Schmerz zugefügt hatte.
»Haben Sie auch das Röntgenbild des Gemäldes?«
»Ja, hier.«
Pernathy blätterte die Seite um. Anaïs erkannte das gleiche Gemälde in Schwarz-Weiß. Es schien zu strahlen und hatte sich in eine Art Traumlandschaft verwandelt. Der Unterschied war unverkennbar: Anstelle des Mantels schmiegte
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