Der Ursprung des Bösen
nichts unterscheiden. Ihm fiel ein, dass er das Handy im Auto vergessen hatte. Wie dumm von ihm! Zweifellos würde der Mörder ihn anrufen, um ihn in den endlosen Gewölben zu finden.
Plötzlich flammte zu seiner Rechten ein Licht auf. Es konnte fünfzig Meter, vielleicht aber auch deutlich weiter entfernt sein – die schwarze Unendlichkeit war schwer abzuschätzen. Gleichzeitig hallte ein Fauchen durch den Raum. Kubiela kniff die Augen zusammen und erkannte eine flackernde orangefarbene Flamme mit bläulichen Rändern. Die Flamme eines Schweißgeräts, die dann und wann Reflexe auf einen durchnässten Regenmantel warf.
Ein Mann kam auf ihn zu.
Ein Hochseefischer.
Nach und nach konnte Kubiela ihn besser erkennen. Der Mann war groß, trug einen Regenmantel, eine Latzhose mit Hosenträgern, eine aufblasbare Rettungsweste und hüfthohe Anglerstiefel. Sein Gesicht war unter einer tief heruntergezogenen Schirmkapuze verborgen.
Der Mann war nur noch wenige Meter entfernt. In der einen Hand hielt er den Schweißbrenner, mit der anderen zog er die Gasflasche auf Rollen hinter sich her, aus der sich der glühende Strahl speiste.
Kubiela bemühte sich, einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen. Die Größe und die leicht gebückte Haltung des Mörders kamen ihm vertraut vor.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagte der Mann und streifte die Kapuze ab.
Es war Jean-Pierre Toinin. Der Psychiater, der bei seiner tragischen Geburt anwesend war und den Wahnsinn seiner Mutter betreut hatte. Der Mann, der an der Opferung seines Bruders teilgenommen hatte. Der Greis, der seine ganze Geschichte kannte, weil er sie wahrscheinlich selbst ersonnen hatte. Ich bin derjenige, der dich erschaffen hat .
»Entschuldige, aber ich muss diese vermaledeite Tür schließen.«
Kubiela trat einen Schritt zur Seite und ließ die Schreckensgestalt vorbei. Er spürte den glühenden Hauch des Schweißbrenners und versuchte die Kraft des Mannes abzuschätzen. Trotz seines Alters wirkte er durchaus in der Lage, den Minotaurus oder Ikarus auf seinen Schultern zu tragen.
Mit einer knappen Bewegung zog er die Tür zu, ehe er die Gasflamme so einstellte, dass sich ihre Farbe zu einem fruchtigen Orange wandelte. Das Fauchen wurde ohrenbetäubend. Toinin verschweißte den Türfalz auf der Höhe des Schlosses. Kubiela hielt die Luft an. Jede Fluchtmöglichkeit schmolz im wahrsten Sinn des Wortes dahin. Jenseits der zugeschweißten Tür brüllte und wütete der Ozean.
»Was machen Sie da?«
Er sprach mit dem Mörder. Ihm war, als träumte er.
»Ich verschließe diesen Ausgang.«
»Wegen des Wassers?«
»Unseretwegen. Dort können wir nun nicht mehr hinaus.«
Der Strahl war mittlerweile so weiß wie Eis. Wie mehrere hundert Grad heißes Eis. Kubiela sah, wie das Metall rotglühend zerschmolz und sofort wieder schwarz wurde. Und in diesem Moment verschwand jegliche Apathie.
Er trat neben den Greis, der auf den Knien arbeitete, und riss ihn hoch.
»Wo ist sie?«
Toinin drehte den Schweißbrenner und rief mit gespieltem Schrecken:
»Unglückseliger! Du wirst dich noch verbrennen!«
Kubiela ließ ihn los, wiederholte aber seine Frage.
»Wo ist Anaïs?«
»Da drüben.«
Der alte Mann wies mit der Flamme in Richtung einer Seitentür zur Linken. Ein Zugang zu den Hangars. Kubiela glaubte eine von Kopf bis Fuß durchnässte Gestalt zu erkennen, die am Boden kauerte. Von der Figur her konnte es Anaïs sein, doch das Gesicht wurde von einer Sturmhaube verborgen.
Kubiela wollte losstürmen, doch Toinin versperrte ihm den Weg mit dem tödlichen Strahl, der seinen Augen gefährlich nahe kam.
»Geh nicht zu ihr«, zischte er. »Noch nicht.«
»Willst du mich etwa hindern?«, schrie Kubiela und ließ die Hand hinten in seinen Gürtel gleiten.
»Wenn du ihr zu nahe kommst, wird sie sterben. Das kannst du mir glauben.«
Kubiela blieb sofort stehen und ließ den Griff seiner CZ los.
»Beweise mir, dass es Anaïs ist.«
»Komm mit.«
Mit seiner Gasflasche auf Rädern wendete sich der Alte dem Schatten zu. Kubiela folgte ihm misstrauisch. Das Spiegelbild der Schweißflamme tanzte in den Pfützen. Das Fauchen des Brenners mischte sich mit dem Grollen der Wogen.
Wenige Schritte vor seiner Gefangenen blieb der Mörder stehen. Er ließ die Gasflasche los und streckte den Arm aus. Kubiela glaubte, er würde ihr die Sturmhaube abnehmen, doch stattdessen schob er ihre Ärmel hinauf. Die Narben früherer Selbstverstümmelungen zogen sich über ihre klatschnasse
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