Der Ursprung des Bösen
Worte. Typisch Polizist und absoluter Blödsinn. Der Arzt stand nicht unter Verdacht. Sie wollte ihn lediglich verunsichern. Alle Polizisten kannten diese Machtspielchen.
Der Mediziner stützte sich auf den Türrahmen.
»Sie tun alles, um unsympathisch zu wirken, Mademoiselle. Trotzdem sind Sie mir sympathisch. Sie gebärden sich wie ein Kind, das der ganzen Welt böse ist – genau wie die Patienten, die ich jede Woche in der Drogenambulanz behandle.«
Anaïs verschränkte die Arme. Sein teilnahmsvoller Ton erbitterte sie fast noch mehr.
»Ich verrate Ihnen ein Geheimnis«, sagte er und beugte sich zu ihr hinunter. »Wissen Sie, warum ich jede Woche in der Ambulanz arbeite, obwohl sonst nur Patienten der allerbesten Gesellschaft von Bordeaux in meine Praxis kommen?«
Anaïs stand unbeweglich vor ihm. Sie biss sich auf die Lippen und wippte ungeduldig mit dem Fuß.
»Mein Sohn ist mit siebzehn an einer Überdosis gestorben. Dabei hätte ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass er nie im Leben etwas mit Drogen zu tun hatte. Genügt Ihnen das als Grund? Ich kann die Sache nicht mehr ungeschehen machen. Aber ich kann vielleicht ein paar unglücklichen Jugendlichen helfen, und das ist ja wenigstens etwas.«
Er schlug die Wagentür hinter sich zu. Anaïs sah zu, wie der Mercedes unter den Bäumen verschwand und mit der Dunkelheit verschmolz. Plötzlich erinnerte sie sich an den Komiker Coluche, der in einem Sketch über Polizisten gesagt hatte: »Ja, ja, ich weiß, ich wirke ein bisschen dämlich.« Der Satz erschien ihr wie ein Urteil über sie selbst.
2 1.00 Uhr.
Endlich war der Bereitschaftsdienst zu Ende. Mathias Freire fuhr nach Hause. Er dachte an den Mann mit dem Stetson und den Minotaurus. Seit dem Besuch von Anaïs Chatelet zerbrach er sich den Kopf, welcher Zusammenhang zwischen den beiden Fällen bestehen mochte. Den ganzen Nachmittag hatte er während der Behandlungen über dieser Frage gebrütet. Welche Beziehung bestand zwischen Mischell und dem Mord? Was genau hatte der Mann ohne Gedächtnis gesehen? Freire bereute, dass er nicht auf den Vorschlag der Polizistin eingegangen war, denn er wusste nicht, wie er im Fall des Cowboys sonst weiterkommen sollte.
Als er den Schlüssel im Haustürschloss drehte, kam ihm eine Idee. Eigentlich ein Bluff. Er knipste das Licht im Wohnzimmer an und setzte sich an seinen Computer. Es war ganz einfach, Telefonnummer und Adresse des Polizeilabors herauszufinden, das Bordeaux am nächsten lag. Es befand sich in Toulouse. Freire überlegte, ob es vielleicht das gleiche Labor gewesen war, das die Spuren an Mischells Händen gesichert hatte. Wenn es so war, dann kümmerten sich die gleichen Leute auch um den Minotaurus.
Mehr darüber erfahren würde er allerdings nur, wenn er anrief.
Er erreichte den Bereitschaftsdienst und stellte sich als psychiatrischer Experte vor, der sich um den Verdächtigen im Mordfall am Bahnhof Saint-Jean kümmerte. Der Beamte am anderen Ende der Leitung hatte nicht nur von diesem Fall gehört, sondern auch am Morgen zusätzliches Material erhalten, das analysiert werden sollte.
Freire hatte sich nicht geirrt. Das gleiche Team befasste sich sowohl mit dem Fall des Unbekannten, der in der Nacht zum 13. Februar im Bahnhof aufgegriffen worden war, wie auch mit dem am Folgetag entdeckten Mord. Es war reiner Zufall, denn die Techniker waren aus einem anderen Grund bereits vor Ort gewesen.
»Würden Sie mir bitte die Nummer des Gruppenleiters geben?«
»Sie meinen sicher den Einsatzleiter.«
»Genau, den Einsatzleiter.«
»Aber das entspricht nicht den Vorschriften. Warum ruft nicht der zuständige Hauptkommissar an?«
»Anaïs Chatelet? Aber sie war es doch, die mich gebeten hat, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.«
Die Erwähnung des Namens wirkte sofort. Der Mann diktierte Freire die Nummer und sagte:
»Sein Name ist Abdellatif Dimoun. Er hält sich noch bei Ihnen in Bordeaux auf und arbeitet mit einem privaten Labor zusammen. Er wollte dortbleiben, bis die Resultate da sind.«
Freire bedankte sich, legte auf und wählte unmittelbar danach die achtstellige Nummer.
»Hallo?«
Der Psychiater wiederholte den Schwindel vom Experten, doch Abdellatif Dimoun war nicht auf den Kopf gefallen.
»Meine Resultate teile ich lediglich der zuständigen Hauptkommissarin mit. Und dem Richter. Wenn wir so weit sind.«
»Mein Patient hat das Gedächtnis verloren«, erwiderte Freire. »Ich versuche zu erreichen, dass seine Erinnerung zurückkehrt, und
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