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Der Utofant

Der Utofant

Titel: Der Utofant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna und Günter Braun
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Bar gewesen. In einem offenen Schrank sind Flaschen aufgereiht, eckige, kuglige, zylindrische, beschädigte und teils noch gut erhaltene. Einige verschlossene sogar mit Flüssigkeit. Ein Kasten in der Ecke, der Tanzmusik erzeugt hat, spielt, wenn sich eine Anzahl Besichtiger vor ihm aufstellt, den Rest eines Liedes, in dem ein Mann mit Namen Dschingis Khan vorkommt. Die oberen Stockwerke erreicht man über breite, gefährlich glatte Marmortreppen oder nach Vorzeigen des Internationalen Fitness-Ausweises (die Sperranlage nimmt das Bild des Dokuments fotoelektrisch auf und gibt den Zutritt frei) mit dem antiken Lift. Er ist mit Hilfe vorgefundener Reste rekonstruiert und in Betrieb genommen worden, soll bis zum neunten Stockwerk fahren, bleibt aber manchmal im fünften oder sechsten stehen. Typisch die Schnellschließautomatik seiner Türen, die es geraten sein läßt, sich rasch zum Einstieg zu entscheiden, Gliedmaßen aus dem Schließbereich zu bringen. Der antike Lift pflegt in unberechenbarer Spontaneität aufwärts zu jagen oder abwärts, woran ihn auch das Drücken von Halteknöpfen nicht hindern kann. Am besten rühre man an keinen Knopf des alten rekonstruierten elektronischen Systems, man überlasse sich dem Zufall, das ist sicherer.
    Es wäre falsch, erklärt das Ei, daraus zu folgern, daß die Rekon-strukteure mit der antiken Technik nicht zurande kamen, sie wollten auch im Detail historisch Echtes bieten.
    Ist man gesund in eins der oberen Stockwerke gelangt, mag man ein sogenanntes Appartement, bestehend aus kleinem Korridor mit eingebautem Schiebeschrank, betreten. Links findet man die Toilette, die man bedienen darf. Wackelnd bereitet sie ein Rauschen vor, bei dem sich echtes Wasser zeigt. Die Wasserzungen, die bis ins Zimmer lecken, beweisen, daß Wasch- und Fußspülbecken und auch die Dusche funktionieren. Das Zimmer mit Liegesofa, zwei Sesseln (Skelett) und einem Rundtisch, auf dem sich, rabenschwarz, ein urtümlicher Fernsprechapparat befindet, stößt an das Schlafzimmer, das ebenfalls durch Einfachheit des Meublements besticht. Die Betten sind zu jener Zeit sehr kurz gewesen, doch sollte man beachten, sagt das Ei, daß damals die Touristen kleiner waren. Trotzdem scheint dort auch Liebe durchführbar gewesen. Erinnerungskritzeleien an Bettstellen beweisen es. Eine jedoch besagt, man habe es im Stehen vorgezogen, die Betten seien hinterlistig so eingerichtet, daß sie bei rhythmischer Belastung zusammenkrachen.
    Den Balkon zu betreten ist verboten, er ist nur lückenhaft umgittert, die Stäbe sind auffallend kurz. Man braucht sich nicht besonders vorzubeugen, um abzustürzen, die Touristen waren damals, wie uns das Ei sagt, kleiner. Einzelne Gitterstäbe von Balkons kann man in einer Ausstellung im früheren Speisesaal des AUREOLE besichtigen. Er ist nur eine Halle mit einem Flachdach, das eingestürzt gefunden und neu gezogen wurde. Die hier und da ein wenig eingerissenen Säulen tragen noch.
    Aufgereiht liegen dort rostige Schlüssel mit den bekannten Nummernkugeln, vergilbte, halbzerfallene Essensbons, Geldscheine, Münzen, blauweiße leichtzerknautschte Blechschachteln, die chemisch nachweisbar noch Cremespuren enthalten sollen, brüchige Häute von Tiernachbildungen, in die man Luft pumpte, um sie als Schwimmwesen aufs Meer zu lassen.
    Badeanzüge sagen aus, daß man schon damals das Bekleidetbaden kannte. Staubsaugergroße Spritzen, mit denen Reinigungsangestellte täglich Insektentod durch alle Gänge und durch die Türritzen der Zimmer bliesen, im Morgengrauen, wenn die Gäste schliefen, damit sie nicht gestört würden, und Souvenirs: Amphoren, den Weinbehältern der Urzeit dieser Gegend nachgebildet, rötlicher Ton auf schwarzen Eisenständern, liegengebliebene erschreckend bunte Ansichtskarten, das heute Ausgegrabene im Urzustand vorführend.
    Wir sind schon braun, Geld ist bald alle, obwohl es nichts Besonderes zu kaufen gibt . Dies scheinen Anzeichen des Niedergangs des Hochtourismus: Wa s es hier gibt, das haben wir zu Hause auch. Beschwerdezettel über nächtliche Musik, Betrunkenenlärm, Müllabfuhr- sowie Rummelplatzgeräusche in Überphon, zerbrochene Sonnenbrillen, die Sonnenmasken-Automatikmedien waren noch nicht erfunden. Zerfetzte radgroße Strohhüte aus einem eher iberischen Kulturkreis, auch primitive Fotoapparate, Rasiermaschinen. Nirgends jedoch ein Reiseleiter in Ei-, Bananen- oder anderer industrieller Formgebung.
    Nun, unser Ei ist auch nicht auf dem höchsten Stand.

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