Der Väter Fluch
ist... gegenseitiges wütendes Anstarren von zwei Menschen, die beide unter großem Stress stehen.«
» Ich starre dich wütend an?«, fragte Decker. »Ja, du starrst mich wütend an.«
»Nein - du starrst mich wütend an!«
»Ich weiß«, erwiderte Rina. »Darum sagte ich auch, dass wir uns gegenseitig wütend anstarren!«Decker hielt inne; dann begann er zu lachen. Das löste die Spannung, sodass Rina ebenfalls lachen musste. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie fest. »Ich würde dich ja in den Arm nehmen, aber dann schmiere ich überall Farbe auf deinen Anzug.«
»Tu's trotzdem.« Decker zog sie an sich.
Sie umarmten sich lange und innig. Und Rina machte tatsächlich seinen Anzug voller Farbe. Aber das war ihm egal. Dafür hatte Gott die chemische Reinigung erfunden.
10
Es war bereits nach acht, und bei den Goldings ging immer noch niemand ans Telefon. Decker würde es am nächsten Morgen wieder versuchen, wenn der Schock etwas nachgelassen hatte. Trotzdem wollte er noch nicht mit der Arbeit aufhören. Vor sechs Monaten hatte Ernesto Golding eine Freundin namens Lisa Halloway gehabt, deren Namen er selbst erwähnte, und auch Yonkie kannte ihn, wobei sein Stiefsohn behauptete, die Trennung hätte sie schwer getroffen. Decker fragte sich, ob sie bei Ernesto vielleicht schon vor der Tat Anzeichen für antisoziales Verhalten bemerkt hatte.
Das Problem bestand darin, ihre Eltern aus dem Spiel zu lassen. Doch die Lösung gestaltete sich einfacher als erwartet: Ihre Eltern waren nicht zu Hause.
Zumindest schlug sie ihm nicht gleich die Tür vor der Nase zu.
Im Licht der Haustürlampe fiel ihm das Glitzern von Metall auf - eine Reihe von Steckern in ihren Ohren und ein kleiner Stein an einem Nasenflügel. Wie würde wohl ihr Bauchnabel aussehen? Decker wusste, dass man nicht nach Äußerlichkeiten gehen sollte - wenn Yonkie sie mochte, konnte sie nicht völlig oberflächlich sein -, aber er hatte, obwohl erst mittleren Alters, bereits die Vorurteile eines alten Mannes. Also versuchte er objektiv zu bleiben, hinter die Fassade zu blicken, und entdeckte dort ein hübsches Mädchen mit dunklen Augen, schöner Haut, einer ovalen Gesichtsform und Grübchen in den Wangen. Eine Fülle von Locken umrahmte ihr Gesicht. Sie stand vor ihm mit nach vorn gekrümmten Schultern, als ob ihr kalt wäre, und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Lisa war nicht sehr glücklich über die Situation und scheute sich nicht, das zu verbergen.
»Ich weiß nichts über diese Vandalismusgeschichte.« Ihre Stimme war rau und tief. »Aber selbst wenn ich etwas wüsste, würde ich Ernesto nicht verpfeifen.«
»Kann ich ein paar Minuten reinkommen?«, fragte Decker.
»Warum sollte ich Sie reinlassen? Sie könnten ein Vergewaltiger sein!«
Decker betrachtete Lisa - ein wütendes junges Mädchen in einem hautengen weißen Top mit Jeans und ohne Unterwäsche. Selbst in dem schwachen Licht konnte er ihre Brustwarzen erkennen. Es wäre nicht sehr klug gewesen, allein und unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit ihr zu sprechen. Also sagte er: »Dann unterhalten wir uns hier draußen.«
»Damit alle Nachbarn uns sehen?«
»Genau.« Decker lächelte. »Das ist der Sinn der Sache. Damit du dich sicherer fühlst.«
»Sie können ruhig reinkommen«, lachte sie spöttisch. »Ich würde Sie nie für einen wirklichen Vergewaltiger halten.«
»Vielen Dank, aber hier gefällt's mir besser«, erwiderte Decker mit ausdrucksloser Miene. »Können wir uns einen Augenblick über andere Dinge unterhalten, Lisa? Nehmen wir mal an, wir haben zwei konkurrierende Eigenschaften: Loyalität und Gerechtigkeit. Beide sind bewundernswerte Eigenschaften, oder?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen!« Sie rieb sich die Arme. »Außerdem ist mir kalt.«
»Ich warte gern, bis du dir einen Pullover geholt hast.«
»Vergessen Sie's!«
Jetzt war sie völlig missgelaunt, aber Decker ließ sich davon nicht beeindrucken. »Falls die fragliche Partei beschuldigt wird, eine kriminelle Handlung begangen zu haben, es aber keine definitive Schuld oder Unschuld gibt, verdient diese Partei es vielleicht, im Zweifelsfall für unschuldig gehalten zu werden, ergo Loyalität. Aber wenn man genau weiß, dass sie es getan hat - weil sie selbst es nämlich zugegeben hat -, verliert sie durch ihre kriminelle Handlung nicht auch den Anspruch auf Loyalität, und wäre die Frage der Loyalität dann nicht sowieso hypothetisch, weil sie die Tat bereits zugegeben hat?«
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