Der Väter Fluch
Sie wollen eine greifbare, eine sensorische Wahrheit. Eine Wahrheit, die Sie sehen, hören oder fühlen können. Ich dagegen möchte die Wahrheit hier oben erfahren.« Er tippte mit dem Finger gegen seine Schläfe. »Für mich ist das, was in der Synagoge passierte - so schrecklich es auch sein mag - nicht so wichtig wie das, was im Kopf des Jungen vorging. Das Warum. Für Sie ist das Warum nicht von vorrangiger Bedeutung. Natürlich suchen auch Sie nach einem Motiv; auf diese Weise lässt sich der Fall schneller abschließen. Aber Ihr Hauptinteresse gilt der Tatsache, dass ein Verbrechen begangen wurde.«
»Das stimmt so nicht«, sagte Decker.
»Ach, nein?«, rief Merv, während er weiter auf und ab marschierte. »Das Gesetz berücksichtigt einige mildernde Umstände, aber nicht alle. Im Kopf gibt es jedoch immer mildernde Umstände.«
Der Mann war wirklich eine Nervensäge. Decker wurde langsam ärgerlich. »Warum bin ich hier, Dr. Baldwin?«
»Ernesto hat verlangt, dass ich Ihnen meine Therapie erkläre und Ihre Zustimmung einhole. Nicht dass es mich interessiert, ob Sie zustimmen oder nicht. Ich versuche nur, einem alten Freund zu helfen.«
»Sie sind mit den Goldings befreundet?«, fragte Decker.
»Wir haben zusammen demonstriert.« Baldwin blieb stehen, um Deckers Gesicht zu betrachten. »Sie müssten eigentlich zur gleichen Generation gehören.«
»Als Kriegsveteran stand ich auf der anderen Seite, Doktor.« Decker lächelte. »Scheint so was wie ein wiederkehrendes Muster zu sein.«
Merv lächelte. »Nicht so, wie Sie denken. Auch ich habe meine Dienstpflicht erfüllt - allerdings nicht an der Front. Ich schätze, dass Sie von mir jetzt keine besonders gute Meinung haben. Aber ich war nicht gegen die Armee, sondern nur gegen den Vietnamkrieg. Ich war als Militärpsychologe in Deutschland stationiert -einer derjenigen, die man bei Kriegspsychosen zu Rate zieht. Es war ein wirklich hässlicher Krieg.«
»Ja, das stimmt.« Decker warf einen Blick auf seine Uhr. »Es war sehr nett, mit Ihnen über Politik zu plaudern, aber ich habe noch andere Verpflichtungen.«
»Wir wissen, dass Sie ein viel beschäftigter Mann sind«, meinte Dee ohne jeden Sarkasmus in der Stimme. »Vielen Dank, dass Sie sich für uns und Ernesto Zeit genommen haben. Wir haben ständig mit Extremsituationen zu tun und helfen jungen Männern dabei, ihre Energie in konstruktive Bahnen zu lenken. Und so lange sie nicht ein Gespür für ein Leben in Harmonie mit der Natur entwickeln, können sie den constructo in ihrem Innern nicht erreichen. Deshalb nennen wir unsere Therapie >Naturtherapie<. Wirführen unsere Patienten aus der Stadt hinaus und hinein in die Wildnis. Tagsüber werden sie körperlich gefordert: Sie müssen eine Hütte bauen, nach Nahrung suchen, sich vor wilden Tieren, Insekten und den Kräften der Natur schützen. Dieses Training wird von erfahrenen Survivalspezialisten überwacht, die den Auftrag haben, den Patienten alle wichtigen Dinge des Überlebens beizubringen. Sie selbst dürfen jedoch keinerlei Therapie anbieten. Selbst wenn ein Patient sich ihnen anvertrauen möchte, haben sie die Anweisung, ihn zu bitten, seine Fragen oder Probleme bis zur nächsten Gruppen- oder Einzeltherapie aufzuschieben. Jeder unserer Jugendlichen bekommt sowohl Einzel- als auch Gruppentherapie. Gerade die Integration von Psyche und Körper bringt unsere Patienten wieder in Harmonie mit sich selbst und der Natur.« Merv setzte den Vortrag fort: »Wir haben eine enorme Erfolgsquote zu verzeichnen. Zwar sind wir nicht perfekt, aber keine Therapieform bietet ein Allheilmittel, zumal wenn der Patient nicht bereit ist, sich zu ändern. In Ernestos Fall haben wir den Eindruck, dass er für unsere Selbsterfahrungstherapie reif ist. Er ist intelligent, körperlich fit und über das, was er getan hat, sehr bekümmert. Sicher sind auch Sie der Meinung, dass der Junge sich - mit der richtigen Begleitung - doch noch zu einem nützlichen Mitglied der Gemeinschaft und einer Stütze der Gesellschaft entwickeln kann.«
»Wenn Sie glauben, dass Sie ihn ändern können - prima!«, sagte Decker.
»Das würde Ihnen gefallen, was?«, sagte Merv.
»Aber sicher.«
»Und es stünde im Widerspruch zu Ihrer vorgefassten Meinung über den Jungen?«, fragte Merv. »Ich bin mir sicher, dass Sie ihn als problematisch eingestuft haben.«
»Eher als kriminell«, erwiderte Decker. »Aber überzeugen Sie mich doch einfach vom Gegenteil.«
Dee lächelte. »Oh, das
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