Der Vampir, den ich liebte
lag.
Ich sah
ihn, bevor Ethan ihn fand. Den Pflock. Selbst gemacht. Primitiv. Aber tödlich.
Halb vergraben im Heu. Ich stürzte darauf zu – doch Jake hatte den Pflock
ebenfalls entdeckt und er war schneller. Er schnappte ihn sich und schlich sich
an Lucius heran, der sich gerade wieder auf die Beine kämpfte und sich dem
kleineren, aber trotzdem starken Ringer entgegenstellte.
»Nein,
Jake!«, heulte ich, rappelte mich auf die Knie hoch und krabbelte vorwärts, um
Jakes Beine zu packen. Aber ich verfehlte ihn, weil er plötzlich schneller
wurde. Lucius knurrte und kam ebenfalls näher.
Und dann
sah ich wie in Zeitlupe, wie mein Exfreund den Arm hob, vorwärtsstürzte und
Lucius den Pflock in die Brust rammte.
»Jake – nein!« Ich schrie. Oder ich dachte, dass ich schrie. Ich erinnere mich nicht,
dass auch nur ein Laut aus meinem Mund kam. Binnen eines Sekundenbruchteils war
es vorüber.
Jake – der nette Jake – stand über Lucius' Gestalt. Lucius' regloser Gestalt.
»Was hast
du getan?«, brüllte ich in die plötzliche Stille hinein.
Jake trat
zurück, das schwere, scharfe, blutverschmierte Stück Holz in der Hand. »Ich
musste es tun. Es ging nicht anders«, sagte er und sah mich zutiefst
unglücklich an. »Es tut mir leid.«
Ich wusste
nicht, was er meinte. Aber es war mir auch egal.
»Lucius«,
schluchzte ich und stolperte durch das Heu. An seiner
Seite brach ich zusammen und tastete nach seinem Puls. Er war da, aber
schwächer als gewöhnlich. Blut sickerte aus einem Loch in seinem Hemd. Einem
klaffenden Loch. Ich blickte in den Kreis von Gesichtern über mir. Vertrauten
Gesichtern. Jungen, die ich aus der Schule kannte. Die Wut war verschwunden,
sie schienen endlich zu begreifen, was sie getan hatten. Wie konnten sie
das getan haben? »Holt Hilfe«, flehte ich sie an.
»Nein,
Antanasia«, sagte Lucius leise.
Ich beugte
mich über ihn und drückte sachte die Hände auf das Loch in seiner Brust, als
könnte ich so die Blutung stoppen. »Lucius ...«
»Es ist
vorbei, Jessica«, brachte er mit leiser Stimme hervor. »Lass einfach gut
sein.«
Eine
gewaltige Stimme dröhnte auf einmal aus der dunkelsten Ecke der Scheune.
»Raus. Ihr alle. Und ihr werdet kein Wort darüber verlieren. Niemals. Hier ist
niemals etwas geschehen.«
Dorin. Mein Onkel hatte sein gewohnt gut
gelauntes Auftreten abgelegt und sprach mit unvertrauter Autorität, als er aus
der Dunkelheit hervorkam und die Führung übernahm.
Füße
raschelten hastig durch das Heu, als die Gruppe von Teenagern gehorchte und in
die Nacht davonstob.
Woher war
Dorin gekommen? Warum, verdammt noch mal, hatte er nicht rechtzeitig
eingegriffen? Ich stand auf, rannte zu ihm und schlug mit blutverschmierten
Fäusten auf seine Brust ein. »Du hast das zugelassen. Du hättest ihn beschützen
können!«
»Geh jetzt,
Jessica«, befahl Dorin und hielt meine Fäuste fest. Er war überraschend stark.
Traurigkeit stand in seinen Augen. »Das ist Lucius' Schicksal. Es ist das, was
er sich wünscht.«
Nein.
Das kann nicht sein. Wir haben uns gerade noch geküsst ... »Was soll das heißen, ›was er
sich wünscht‹?«, heulte ich, lief zurück zu Lucius und ließ mich auf die
Knie fallen. »Unser Schicksal ist es, zusammen zu sein, richtig? Sag es,
Lucius.«
»Nein,
Antanasia«, erwiderte er. Seine Stimme war so schwach, dass ich ihn kaum noch
verstehen konnte. »Du gehörst hierher. Lebe ein glückliches Leben. Ein langes
Leben. Ein menschliches Leben.«
»Nein,
Lucius«, schluchzte ich. Ich wollte, dass er überlebte. Dass er darum kämpfte.
Er konnte nicht einfach aufgeben. »Ich will mit dir leben.«
»Es soll
nicht sein, Antanasia.«
Ich hätte
schwören können, dass ich Tränen in seinen schwarzen Augen sah, kurz bevor er
sie schloss. Ich begann zu schreien. Das Nächste, woran ich mich erinnerte,
war mein Dad, wie er mich in die Arme nahm, hochhob und zum Van trug, während
ich wild um mich schlug. Ich wusste nicht, wann meine Eltern eingetroffen waren
oder wie sie mich gefunden hatten.
Es spielte
keine Rolle.
Lucius war
fort.
Vernichtet.
Der
Leichnam verschwand und Dorin verschwand und niemand verlor mehr ein Wort über
die Ereignisse dieser Nacht. Es war, als sei das Ganze ein Traum gewesen. Wäre
da nicht die Kette an meinem Hals gewesen – die Art, wie sie auf meiner Haut zu
brennen schien, dort, wo seine Finger sie geschlossen hatten – hätte ich es
vielleicht selbst nicht geglaubt.
Kapitel 58
Und der Preis der Woodrow Wilson
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