Der Vampir, den ich liebte

den
Ledersessel, auf dem wir vor wenigen Minuten noch ineinander verschlungen
gewesen waren wie die Wäsche auf dem Bett. Minuten, in denen ich geschworen
hätte, dass Lucius drauf und dran war, mich zu küssen – mindestens das. »In dem Sessel? Als du den Arm um mich gelegt hattest?«, bohrte
ich nach. »Was war das, Lucius?«
    Lucius
legte das T-Shirt beiseite, das er gefaltet hatte, und ließ die Arme sinken.
»Das, Jessica«, sagte er traurig, »wäre um ein Haar ein Fehler gewesen.«
    Ein
Fehler? Hatte er
wirklich gerade gesagt: »ein Fehler«?
    Ich
richtete mich zu meinen vollen einen Meter sechzig auf. Mit einer Kraft, von
der ich nie gewusst hatte, dass ich sie besaß, angetrieben von einer
Entrüstung, deren Heftigkeit mich selbst überraschte, holte ich aus und
verpasste Lucius Vladescu eine schallende Ohrfeige.
    Er rieb
sich noch immer das Kinn, als ich die Tür hinter mir zuschlug.
    Dämlicher
rumänischer Blutsauger. Er konnte von Glück sagen, dass ich seinem königlichen
Körper nicht eine weitere erhabene Narbe hinzugefügt hatte. Wenn er Jessica
Packwood – Antanasia Dragomir – jemals wieder dumm kam, würde er eine wirklich königliche Abreibung bekommen. Das konnte Lucius Vladescu von mir aus
schriftlich haben und sich bei der Nationalbank in Bukarest in den Safe legen,
zu seinem verdammten Treuhandfonds.

Kapitel 35
    Konzentrier
dich, Jess,
konzentrier dich«, trieb ich mich an.
    Aber je
mehr ich mich zur Konzentration zwingen wollte, umso unkonzentrierter wurde
ich. Es war, als ob ich versuchte, nach in der Luft treibenden Seifenblasen zu
greifen. Blasen, die gefüllt waren mit bedeutungslosen Zahlen und
mathematischen Ziffern. Pluszeichen, Minuszeichen und Quadratwurzelsymbole kreisten
in meinem Kopf. Sie alle zerplatzten, sobald ich meine Hände nach ihnen
ausstreckte. Zerplatzten und verschwanden.
    Obwohl ich
mehrere Übungsstunden geschwänzt hatte, hatte ich es dennoch irgendwie in das
Finale der regionalen Mathe-Olympiade von Lebanon County geschafft, bei der
die besten Schüler gegeneinander antraten. Keine Stifte. Kein Papier. Nicht
einmal eine Chance, die Fragen noch einmal durchzulesen. Nur die Moderatorin,
die uns mit mündlichen Aufgaben bombardierte, und zehn von uns, die dastanden
und versuchten, als Erste zu antworten.
    Ich wollte
unbedingt gewinnen. Dies war das eine Gebiet, auf dem ich glänzen konnte. Hier
brauchte man nicht schön oder blond oder reich zu sein wie Faith...
    Hör auf
damit, Jess. Du kannst es bis auf Staatsebene schaffen, wenn du deinen Kopf
freibekommst.
    Als ich zu
der bescheidenen Menschenmenge hinüberschaute, die entlang der Cafeteriawände
stand, sah ich Mr Jaegerman in seinem Polyesteranzug schwitzen – einem abscheulichen
braungrauen Ding – und mich beobachten. Er lächelte und reckte die Daumen hoch.
Mike Danneker befand sich ebenfalls unter den Zuschauern, nachdem er in den
ersten vierzig Minuten rausgeflogen war, weil er wegen ein paar recht leichten
Polynomen unerklärlicherweise in Panik geraten war.
    Mike legte
die Hände trichterförmig um den Mund. »Vermassel es nicht«, flüsterte er
übertrieben laut. Als würde das helfen.
    Die
Moderatorin hörte auf, in ihren Papieren zu blättern. »Frage Nr. 2: Eine
geistesabwesende Bankkassiererin verwechselte Dollar und Cent, als sie Mrs
Jones' Gehaltsscheck auszahlte, und gab ihr Dollar anstelle von Cent und Cent
anstelle von Dollar. Nachdem Mrs Jones sich für fünfzig Cent eine Tasse Kaffee
gekauft hatte, wurde ihr klar, dass sie genau das Dreifache der Summe übrig behielt,
auf die der Scheck ausgestellt war. Auf welche Summe belief sich der Scheck?«
    Ich konnte
das schaffen. Eine diophantische Gleichung. Das war es. Warum also
funktionierte mein Gehirn nicht?
    Je
angestrengter ich nachdachte, desto fremdartiger erschien mir die ganze
Sprache von Gleichungen. Es war, als machte ein Teil meines Verstandes einfach
dicht. Als sterbe er. Es hatte vor Wochen angefangen, als ich begonnen hatte,
von Jake weg- und zu Lucius hinzudriften. Weg von der Welt normaler Menschen
und hin zu einer Welt, in der Blut einen köstlichen Duft hatte. Von da an waren
meine Gedanken jedes Mal abgeschweift, wenn es um Infinitesimalrechnung ging.
Langsam, aber sicher hatte die Algebra für mich ihren Reiz verloren. Und jetzt
stand ich in einem Raum voller Mathe-Asse, mit denen ich eigentlich locker
hätte mithalten sollen, und alles, was ich denken konnte, war: Dollar? Cent?
Kaffee klingt gut ... Wo kann man eine