Der Vampirprinz: Royal House of Shadows (German Edition)
hatte es nicht gewollt, aber er hatte ihr die Gabe gestohlen. Sie machte ihm keine Vorwürfe deswegen, hatte ihn nicht einmal angeschrien.
Er würde alles tun, um ihr die Gabe zurückzugeben. Aber er konnte es nicht. Was er einmal genommen hatte, konnte er nie wieder zurückgeben. Nie. Er hatte es versucht, wieder und wieder. Das Einzige, was er tun konnte, hatte seine Mutter gesagt, war, zu lernen, wie man dieses neu entdeckte Talent, anderen ihre Magie zu rauben, kontrollierte. Und das hatte er. Er war wochenlang in seinem Zimmer geblieben, hatte gelesen, gelernt und geübt.
„Glaubst du, ich werde ein großer Anführer werden, wie du?“, fragte er.
„Ich glaube, du und deine Fragen bringen mich eines Tages ins Grab, Junge.“ Der König streckte sein Schwert aus und berührte damit das Metall in Nicolais Händen. „Fangen wir an.“
Dunkelheit.
Nicolai atmete schwer und schwitzte unaufhörlich. Zitterte. Seine Hände schmerzten. Er sah sie an. Er musste sich die Schläfen aufgekratzt haben, um den Schmerz aufzuhalten, der in ihm explodierte, denn seine Nagelbetten waren blutig und seine Klauen nur noch Stümpfe.
Sein Vater hatte ihn gewarnt.
Sein Vater. Der König.
Sein Name war wirklich Nicolai. Was das anging, hatte Odette nicht gelogen. Sie hatte gewusst, wer und was er war. Sie alle hatten es gewusst. „Von so edler Geburt“, hatte Laila gern gesagt, und jetzt wusste er, warum. Er war ein Prinz, ein Kronprinz, und eines Tages würde er König sein.
Bruder von Breena. Seine Schwester. Seine wunderschöne kleine Schwester mit ihren goldenen Locken. Sie war zu einer bezaubernden jungen Frau mit einem brennenden Herzen herangewachsen, obwohl man sie immer behütet, immer beschützt hatte. Nicolai hatte sie ein paarmal aus dem Palast geschmuggelt, damit sie erfuhr, wie sich die Freiheit anfühlte, die für ihn selbstverständlich war. Wo war sie jetzt?
Dayn, der Bruder, der ihm am nächsten war, so dunkel und gefährlich wie die Nacht und genauso geliebt. Wo war er?
Sein Vater, stolz und stark. Ehrenhaft, entschlossen. Niemals bereit, einer Herausforderung auszuweichen. Wo war er?
Seine Mutter, sanft und zärtlich, so fürsorglich, selbst im Angesicht seiner schlimmsten Launen. Wo war sie?
Micah, der jüngste Sohn, so voller Leben. Wo war er?
Nicolai zog sich hoch in die Hocke. Irgendwie hatte er es geschafft, den Wald zu verlassen. Er befand sich jetzt an einem See. Nicht an dem See, an dem er mit Jane gewesen war. Dieses Wasser war zäh und rot. Alle paar Sekunden kam ein zischender schnappender fleischfarbener Fisch an die Oberfläche, beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel wieder zurück.
Die Steine um ihn herum waren rasiermesserscharf. Hundert Meter entfernt, in der Mitte des dunkelroten Wassers, stand eine Burg. Die Pflanzen, die in der Einöde in alle Richtungen krochen, klebten wie dunkler Schimmel an den Mauern. Es gab eine Brücke, und auf ihr liefen Monster Patrouille.
Sie hatten ihn noch nicht bemerkt, aber das würden sie bald. Er war ungeschützt, er musste ein Versteck finden. Vielleicht trinken, um sich zu stärken. Dann musste er Jane finden. Sie war da draußen, irgendwo. Wenn sie verletzt war …
Sie durfte einfach nicht verletzt sein. Er musste sie um jeden Preis beschützen. Doch so entschlossen er auch war, es gelang ihm nur, wenige Schritte zu kriechen, ehe die nächste Erinnerung ihn überkam und ihn festnagelte.
In dieser neuen Szene war er bereits ein erwachsener Mann, und sein dunkles Haar hing ihm unordentlich bis auf die Schultern. Sein Oberkörper war nackt, und er saß an einem steinigen Ufer, fast wie das, an dem er sich gerade befand. Nur waren die Steine hier glatt und das Wasser klar. Er hatte seine Stiefel ausgezogen, ehe er sich hingesetzt hatte, und sie warteten trocken am Strand auf ihn, aber seine Hosen waren durchweicht und mit Salz verklebt.
Der Mond stand hoch und golden am Himmel, und am Himmel verstreute Sterne leuchteten auf ihn herab. Sie zwinkerten ihm zu und verspotteten ihn mit ihrer Gelassenheit. In seinen Gedanken war mehr Chaos, als er ertragen konnte.
Sein Vater, König Aelfric, war krank.
Die Heiler wussten nicht, ob er sich wieder erholen würde. Nicolais Mutter, Königin Alvina, war außer sich vor Sorge. Sie hatte unzählige Zauber und Beschwörungen versucht, aber nichts hatte geholfen. Nicolai selbst hatte unzählige Zauber versucht und die Gabe der Heilung eingesetzt, die er ihr geraubt hatte. Nicht einmal das war
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