Der Vater des Attentäters (German Edition)

immer der Vernünftige von uns beiden gewesen, sie die Träumerin.
    «Du bist seine Mutter», sagte ich. «Du musst stark sein für ihn. Wir können das alles in Ordnung bringen.»
    «Nein», sagte sie. «Das glaube ich nicht.»

 
    Zwei
     
    Iowa

 
     
    Er verließ das College im März, es schien ihm reine Zeitverschwendung. Er hatte viel geschlafen und etliche Unterrichtsstunden verpasst. Er sei nicht depressiv gewesen, sagte er später, nur gelangweilt. Sein Zimmergenosse behauptete in der Befragung durch den Secret Service, Daniel habe nach dem Zähneputzen nie das Zahnpastawasser ausgespuckt. Er habe es nach dem Spülen einfach runtergeschluckt. Ob das stimmte? Wo hatte Daniel das her? Schließlich steht auf jeder Packung: Nicht zum Verzehr geeignet .
    Am 12. März, an einem Donnerstagmorgen, fünfzehn Monate, bevor Jay Seagram in Los Angeles niedergeschossen wurde, packte Daniel seine Truhe. Er fuhr seinen alten gelben Honda vor den Haupteingang des Wohnheims, lehnte die Hilfe mehrerer Jungen auf seinem Flur ab, schleppte die Truhe bis zur Treppe und ließ sie die Stufen hinunterpoltern. Die lange rechteckige Kiste überschlug sich, das laute Krachen war im ganzen Haus zu hören.
    Daniel hatte im College ein paar Freunde gefunden und war mit verschiedenen Mädchen gegangen, mit einigen mehrere Monate lang. Doch keinem von ihnen sagte er etwas darüber, dass er sein Studium abbrechen wollte. Auch uns, seinen Verwandten nicht. Stattdessen hievte er an jenem kühlen, frischen Märzmorgen seine Truhe ins Heck seines Hondas und fuhr davon.
    Er fuhr nach Westen, über die Mid-Hudson Bridge auf die Route 9W und dann Richtung Norden bis Albany, wo er auf die I-90 bog und durch Syracuse fuhr. Es lag noch Schnee. Die Sonne war eine harte, flache Scheibe am Horizont. Er überlegte, ob er an den Lake Ontario fahren sollte. Er wollte sehen, wie sich die Eisschollen ans Ufer schoben, steuerte dann aber weiter Richtung Westen. Als schließlich die Sonne am Horizont versank, kam er so nahe an den Eriesee, dass er die arktische Seeluft übers Wasser wehen fühlte. Abends checkte er im Crown Inn ein, einem Motel in Millbury, Ohio, das Betten wie Hängematten hatte. Da benutzte er noch seine Kreditkarten.
    Den vorliegenden Quittungen zufolge tankte er außerhalb von Buffalo, New York, und sah sich im Motel einen Film im Pay- TV an, Apocalyptico von Mel Gibson, bezahlt um 1.15 Uhr morgens, am 13. März. Was ihm wohl für Gedanken durch den Kopf gingen, als er da auf seinem Bett im flachen, vereisten Ohio lag und diese tropische Geschichte über eine sterbende Zivilisation verfolgte? Ich habe den Film seitdem selbst viele Male gesehen, schweigend dagesessen und die von den Rümpfen abgetrennten Köpfe die Stufen des alten Maya-Tempels herunterrollen sehen. Die dramatische Wassergeburt habe ich miterlebt und die Angriffe der schwarzen Panther. Die Helden tragen Lendentücher und sprechen eine lang ausgestorbene Sprache. Was hatte das zu bedeuten? Warum hatte er sich diesen Film ausgesucht? Was musste Daniel gedacht haben, als er halb dösend dalag, die Straße immer noch vor Augen und das Vibrieren des Wagens im Körper?
    Im ersten Jahr im College hatte Danny allerlei Dinge begonnen, die er nicht zu Ende führte. Er hatte einen Serien-Comic für die College-Zeitung gezeichnet, der schon nach drei Wochen keine Fortsetzung fand, und schlug im Seminar «Die Kultur des Gesetzlosen im Wilden Westen» als Thema für eine Studienarbeit vor, aus der er sich bald schon auf immer findigere Weise zurückzog (erst verpasste er einzelne Besprechungen mit dem Dozenten, dann dachte er sich komplizierte Entschuldigungen aus und fälschte sogar ärztliche Atteste). Als hübscher, etwas einsilbiger, zu Geistesblitzen fähiger junger Kerl hatte er eine lockere Gefolgschaft, zumeist schüchterne, verhuschte Mädchen, die genau wussten, dass sie bei den Sportcracks und Verbindungsstudenten keine Chance hatten. Wie ein Kolibri summte er von einer zur anderen, ließ sich wohl von den immer wieder neuen Gesichtern und dem einzigartigen Klang ihres Lachens entflammen, verlor dann aber das Interesse, gewöhnlich nachdem er mit ihnen geschlafen hatte, manchmal aber auch schon vorher – und einmal rollte er sich sogar während des Aktes kommentarlos von dem armen Mädchen, griff nach seiner Hose und ging hinaus. Fünf Minuten später saß er auf seinem Fahrrad und fuhr in die Stadt, um Gyros zu essen.
    Danny kam häufig zu spät zum Unterricht, in nicht