Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
schönsten Kleids, dem neuen, das Mama aus Paris hatte kommen lassen. Rose fühlte sich müde und ein bisschen reizbar, aber an diesen Zustand war sie inzwischen gewöhnt. Von kleinen, kränklichen Mädchen erwartete niemand, dass sie immer fröhlich waren, und Rose hatte nicht die Absicht, sich in irgendeiner Weise untypisch zu verhalten. Im Grunde genommen genoss sie es sogar, wenn die Menschen um sie herum einen Eiertanz aufführten: Sie fühlte sich weniger elend, wenn andere mitlitten. Außerdem hatte Rose heute allen Grund, müde zu sein. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen, hatte sich wie die Prinzessin auf
der Erbse hin und her gewälzt, nur dass es keine Erbse unter der Matratze gewesen war, die sie am Schlafen gehindert hatte, sondern Mamas erstaunliche Neuigkeiten.
Nachdem ihre Mutter gegangen war, hatte Rose angefangen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, worin genau der Schandfleck bestand, der den guten Namen ihrer Familie beschmutzte, welches Drama sich wohl abgespielt hatte, nachdem ihre Tante Georgiana vor Haus und Familie geflüchtet war. Die ganze Nacht lang hatte sie über ihre verdorbene Tante nachgegrübelt und auch nicht damit aufgehört, als der Morgen graute. Während des Frühstücks und später, als Mrs Hopkins sie angezogen hatte, selbst jetzt noch, während sie im Kinderzimmer wartete, kreisten die Gedanken in ihrem Kopf. Sie betrachtete gerade das Feuer im Kamin und fragte sich, ob das orangefarbene Glühen wohl dem Tor zur Hölle ähnelte, durch das ihre Tante sicherlich gegangen war, dann hörte sie plötzlich Schritte auf dem Korridor!
Rose zuckte kurz zusammen. Sie glättete die Wolldecke auf ihren Knien und ordnete ihre Züge zu einem Ausdruck der perfekten Gelassenheit, wie sie es von Mama gelernt hatte. Genoss den Schauer der Erregung, der ihr über den Rücken kroch. Was für eine wichtige Aufgabe ihr übertragen worden war! Man hatte ihr einen Schützling zugewiesen. Ihr eigenes Waisenkind, das sie nach ihrem Vorbild formen würde. Rose hatte noch nie eine Freundin gehabt, und man hatte ihr auch kein eigenes Haustier erlaubt (Mama war viel zu besorgt wegen der Tollwutgefahr). Und trotz Mamas warnender Worte hegte sie, was ihre Cousine anging, große Hoffnungen. Sie würde sie zu einer Dame erziehen und sie zu ihrer Gefährtin machen, die ihr die Stirn trocknete, wenn sie krank war, die ihre Hand tätschelte, wenn sie reizbar war, die ihr besänftigend übers Haar strich, wenn sie sich ärgerte. Und sie würde Rose zutiefst dankbar sein, sie würde so glücklich darüber sein, dass man sie lehrte, sich wie eine Dame zu verhalten, dass sie immer tun würde, was Rose von ihr verlangte.
Sie würde die perfekte Freundin sein, eine, die nie Streit suchte, nie lästig wurde, es nie wagte, eine unliebsame Meinung zu äußern.
Die Tür ging auf, das Feuer knisterte ärgerlich im Kamin, und Mama rauschte in einem blauen Kleid herein. Sie strahlte heute eine Unruhe aus, die Roses Neugier weckte, etwas an der Art, wie sie das Kinn vorreckte, bestätigte Roses böse Vorahnung, dass das Projekt größer und vielschichtiger war, als Mama zugab. »Guten Morgen, Rose«, sagte Mama knapp.
»Guten Morgen, Mama.«
»Gestatte mir, dir deine Cousine … Eliza vorzustellen.«
Und dann, wie aus dem Nichts, tauchte hinter Mamas Röcken der magere Knabe auf, den Rose am Tag zuvor vom Fenster aus beobachtet hatte.
Unwillkürlich drückte Rose sich etwas tiefer in ihren Sessel. Sie musterte das seltsame Kind von Kopf bis Fuß, das kurze, struppige Haar, die scheußlichen Kleider (Eliza trug eine Hose!), die abgetragenen Schnürschuhe. Die Cousine brachte kein Wort heraus, nicht mal ein einfaches »Guten Morgen«, sondern starrte nur einfach mit großen Augen vor sich hin, ein Verhalten, das Rose als extrem unhöflich empfand. Ihre Mutter hatte recht. Natürlich erwartete sie nicht von Rose, das Mädchen als ihre Cousine zu betrachten, aber diesem Kind waren nicht einmal die einfachsten Umgangsformen beigebracht worden.
Schließlich gewann Rose ihre Fassung wieder. »Es freut mich, dich kennenzulernen.« Das hatte ein bisschen schwach geklungen, aber ein Nicken von Mama sagte ihr, dass sie sich richtig verhalten hatte. Sie wartete darauf, dass Eliza ihren Gruß erwiderte, doch die blieb stumm. Rose schaute Mama an, die ihr zu verstehen gab, dass sie fortfahren durfte. »Nun, Cousine Eliza«, sagte sie, »gefällt es dir bei uns?«
Eliza schaute sie an, wie man ein seltenes Tier im Londoner Zoo
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