Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
die Mitte des Zimmers zurückkam, meinte Rose, eine gewisse Mutlosigkeit an ihren Schultern ablesen zu können. Schließlich blieb Eliza auf dem Teppich stehen und zeigte auf das Rohr auf Roses Schoß. »Kannst du mir zeigen, wie das Ding funktioniert? Das Teleskop? Ich konnte nichts damit erkennen.«
Rose atmete erschöpft aus, erleichtert und zugleich zunehmend verwirrt über dieses merkwürdige Geschöpf. Dass sie einfach so wieder auf dieses alberne Ding zu sprechen kam, also wirklich! Aber die Cousine war folgsam gewesen und hatte sich eine kleine Aufmunterung verdient … »Erstens«, sagte Rose seufzend, »ist das gar kein Teleskop, sondern ein Kaleidoskop. Es ist nicht dazu gedacht, damit etwas zu erkennen. Man schaut hinein und sieht ein sich ständig veränderndes Muster.« Sie hielt es hoch und führte vor, wie es funktionierte, dann legte sie es auf den Boden und rollte es auf ihre Cousine zu.
Eliza hob es auf, hielt es sich ans Auge und drehte es. Als die
bunten Glasstückchen hin und her kullerten, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und dann fing sie an, laut zu lachen.
Rose blinzelte verwundert. Sie hatte noch nicht oft Leute lachen hören, nur die Diener und Dienstmädchen lachten laut, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Es hörte sich angenehm an. Glücklich, leicht und mädchenhaft, und es schien so gar nicht zu der seltsamen Erscheinung ihrer Cousine zu passen.
»Warum trägst du so komische Kleider?«, fragte Rose.
Eliza schaute weiter durch das Kaleidoskop. »Weil es meine sind«, sagte sie schließlich. »Sie gehören mir.«
»Sie sehen aus, als gehörten sie einem Jungen.«
»Früher haben sie auch mal einem Jungen gehört. Aber jetzt sind es meine.«
Das überraschte Rose. Alles wurde immer wunderlicher. »Welchem Jungen haben sie denn gehört?«
Sie erhielt keine Antwort, hörte nur das Rascheln des Kaleidoskops.
»Ich habe dich gefragt, welchem Jungen sie gehört haben«, wiederholte Rose etwas lauter.
Langsam ließ Eliza das Spielzeug sinken.
»Es gehört sich nicht, jemanden einfach zu ignorieren.«
»Ich ignoriere dich nicht«, sagte Eliza.
»Warum antwortest du mir dann nicht?«
Schon wieder dieses Achselzucken.
»Es ist unhöflich, so mit den Schultern zu zucken. Wenn jemand dich etwas fragt, musst du eine Antwort geben. Und jetzt erklär mir, warum du meine Frage nicht beantwortet hast.«
Eliza blickte auf. Während Rose sie ansah, schien sich etwas im Gesicht ihrer Cousine zu verändern. »Ich habe nichts gesagt, weil ich nicht wollte, dass sie erfährt, wo ich bin.«
»Wer, sie?«
Vorsichtig, ganz langsam, kam Eliza näher. »Die andere Cousine.«
»Welche andere Cousine?« Das Mädchen redete wirklich dummes Zeug. Allmählich gewann Rose den Eindruck, dass sie ein bisschen einfältig war. »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte sie. »Es gibt keine andere Cousine.«
»Es ist ein Geheimnis«, flüsterte Eliza hastig. »Sie haben sie in einem Zimmer im ersten Stock eingesperrt.«
»Das denkst du dir doch bloß aus. Warum sollte jemand hier etwas geheim halten?«
»Mich haben sie doch auch geheim gehalten, oder?«
»Aber sie haben dich nicht eingesperrt.«
»Das liegt daran, dass ich nicht gefährlich bin.« Eliza schlich auf Zehenspitzen zur Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und lugte hinaus. Plötzlich zuckte sie zusammen.
»Was ist?«, fragte Rose.
»Schsch!« Eliza hielt einen Finger an ihre Lippen. »Sie darf nicht wissen, dass wir hier drin sind.«
»Warum nicht?« Roses Augen weiteten sich.
Eliza schlich zurück zu Roses Sessel. Das flackernde Feuer verlieh ihrem Gesicht einen unheimlichen Schimmer. »Unsere andere Cousine«, flüsterte sie, »ist wahnsinnig.«
»Wahnsinnig?«
»Komplett übergeschnappt.« Eliza schaute sie mit großen Augen an und flüsterte so leise, dass Rose sich vorbeugen musste, um ihre Worte zu verstehen: »Sie ist da oben eingesperrt, seit sie ganz klein war, aber jemand hat sie rausgelassen.«
»Wer?«
»Einer von den Geistern. Der Geist einer alten, sehr fetten Frau.«
»Großmama«, hauchte Rose.
»Schsch!«, machte Eliza. »Horch! Da kommen Schritte.«
Rose spürte, wie ihr armes, schwaches Herz wie ein Frosch in ihrem Brustkorb hüpfte.
Eliza sprang auf Roses Sessellehne. »Sie kommt!«
Als die Tür aufging, stieß Rose einen Schrei aus. Eliza grinste, und Mama schnappte nach Luft.
»Was machst du da, du unverschämtes Gör?«, zischte sie, während ihr Blick von Eliza zu Rose huschte.
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