Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
schockiert. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass es Leute gibt, die so leben. Heutzutage gibt’s so was ja kaum noch.« Sie nickte, wie um zu unterstreichen, dass sie das auch richtig fand, dann schaute sie an die Decke. »Also, wo war ich stehen geblieben?«
»Sie haben uns von den Kisten erzählt«, sagte Christian. »Die Ihre Mutter in Blackhurst gekauft hat.«
Sie hob einen zittrigen Finger. »Ach ja, genau, in dem Herrenhaus in Tregenna. Sie hätten ihr Gesicht mal sehen sollen, als sie die Kisten gesehen hat. Aufgebaut auf einem Tisch zwischen lauter anderem Krempel - Lampen, Briefbeschwerer, Bücher und so weiter. Für mich sah das nicht nach was Besonderem aus, aber Mum wusste sofort, dass das Elizas Sachen waren. Sie hat meine Hand genommen, das erste Mal in meinem Leben, glaube ich, und es war, als würde sie plötzlich keine Luft mehr kriegen. Ich hab mir schon Sorgen gemacht und versucht, sie zu einem Stuhl zu bugsieren, aber davon wollte sie nichts wissen. Dann hat sie sich auf die Kisten gestürzt. Es war, als hätte sie Angst wegzugehen, weil sie sonst jemand anders kaufen könnte. Es kam mir
nicht sehr wahrscheinlich vor, wie gesagt, die sahen nach nichts aus, aber Schönheit hängt ja bekanntlich vom Standpunkt des Betrachters ab.«
»Und die Zeichnungen von Nathaniel Walker waren in einer der Kisten?«, fragte Cassandra. »Zusammen mit Elizas Sachen?«
Clara nickte. »Seltsam, jetzt fällt’s mir wieder ein. Mum war so glücklich, als sie die Sachen gekauft hatte, aber kaum waren wir zu Hause, musste Dad sie auf den Dachboden schaffen, und danach habe ich nie wieder etwas von den Kisten gehört. Nicht, dass ich mir viele Gedanken darüber gemacht hätte. Ich war ja erst vierzehn. Wahrscheinlich war ich in irgendeinen Jungen aus dem Dorf verknallt und hab mich nicht die Bohne für ein paar alte Kisten interessiert, die meine Mutter gekauft hatte. Bis sie zu mir gezogen ist und mir auffiel, dass sie die Kisten mitbrachte. Das war wirklich merkwürdig, und da ist mir klar geworden, was sie ihr bedeuteten, denn viel hatte sie nicht mitgenommen. Und erst, als sie hier bei mir wohnte, hat sie mir erzählt, was es mit den Kisten auf sich hatte, warum sie ihr so wichtig waren.«
Cassandra musste an Rubys Worte über das Zimmer im ersten Stock denken, das immer noch voll war mit Marys persönlichen Sachen. Wie viele wertvolle Spuren mochten sich noch da oben in den Kisten befinden, Dinge, die sie nie zu Gesicht bekommen würde? Sie schluckte. »Haben Sie irgendwann mal einen Blick hineingeworfen?«
Clara trank von ihrem Tee, der mittlerweile längst kalt sein musste, und befingerte den Henkel ihrer Tasse. »Ich muss zugeben, ja.«
Cassandra schlug das Herz bis zum Hals; sie beugte sich vor. »Und?«
»Hauptsächlich Bücher und eine Lampe, wie gesagt.« Sie zögerte einen Augenblick und errötete.
»War noch mehr drin?«, fragte Cassandra so behutsam wie möglich.
Eine Weile betrachtete Clara ihre Schuhspitze, die Muster in den Teppichboden zeichnete, dann blickte sie auf. »Ich habe auch einen Brief darin gefunden, gleich obenauf. Adressiert an meine Mum, geschrieben von einem Verleger in London. Das war ein Schock fürs Leben, sag ich Ihnen. Ich hatte nie geahnt, dass meine Mutter Schriftstellerin war.« Clara gackerte wieder. »Und das war sie natürlich auch nicht.«
»Was für ein Brief war es denn?«, fragte Christian. »Aus welchem Grund hatte der Verleger an Ihre Mutter geschrieben?«
Clara blinzelte. »Nun, es scheint, dass meine Mutter ihm eine von Elizas Geschichten zugeschickt hat. Soweit ich dem Brief entnehmen konnte, muss sie sie in der Kiste zwischen Elizas Sachen gefunden und sich gedacht haben, dass es sich lohnen würde, sie zu veröffentlichen. Es stellte sich heraus, dass Eliza sie geschrieben hatte, kurz bevor sie fortgegangen war. Eine hübsche Geschichte, voller Hoffnung und mit einem glücklichen Ende.«
Cassandra musste an die Fotokopie des Artikels denken, der in Nells Notizbuch steckte. » Der Flug des Kuckucks «, sagte sie.
»Genau«, rief Clara erfreut aus, so als hätte sie die Geschichte eigenhändig geschrieben. »Sie haben sie also gelesen?«
»Ich habe nur darüber gelesen, die Geschichte selbst kenne ich nicht. Sie ist erst Jahre nach den anderen erschienen.«
»Das nehme ich an. Es muss 1936 gewesen sein, nach dem Datum des Briefs zu urteilen. Meine Mum hat sich bestimmt über diesen Brief sehr gefreut. Er wird ihr
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