Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
kommen und sie retten würde. Nach ihrer Mutter und dem Ripper eignete sich ihr Vater als tapferer Held hervorragend für Elizas Geschichten. Manchmal, wenn ihr das Auge schon vom Druck gegen den Spalt in der Mauer schmerzte, streckte sie sich oben auf dem Regalbrett aus und träumte von ihrem heldenhaften Vater. Dann redete sie sich ein, dass ihre Mutter sich geirrt hatte, dass er in Wirklichkeit gar nicht ertrunken, sondern auf eine wichtige Entdeckungsreise geschickt worden war und eines Tages zurückkehren würde, um sie von den Swindells zu befreien.
Sie wusste, dass es nur ein Wunschtraum war, der sich ebenso wenig erfüllen würde, wie damit zu rechnen war, dass Feen und Kobolde aus den Mauerritzen am Kamin sprangen, doch das minderte ihr Vergnügen, sich die Rückkehr ihres Vaters in allen Farben auszumalen, nicht im Geringsten. Er würde vor dem Haus der Swindells auftauchen - hoch zu Ross natürlich. Er würde nicht in einer Kutsche sitzen, sondern als Reiter auf einem schwarzen Pferd mit glänzender Mähne und langen, muskulösen Beinen erscheinen. Und die Leute auf der Straße würden alles stehen und liegen lassen, um diesen Mann zu bestaunen, ihren Vater, in seinem schmucken schwarzen Reiterkostüm. Mrs Swindell mit ihrem verhärmten, verkniffenen Gesicht würde über ihre Wäscheleine lugen, über all die hübschen Kleidchen hinweg, die sie am Morgen geraubt hatte, und sie würde Mrs Barker zurufen, sie solle herkommen und sich ansehen, was geschah. Und alle würden wissen, wer dieser Mann war, dass er Elizas und Sammys Vater war, der kam, um seine Kinder zu retten. Und er würde mit ihnen zum Fluss hinunterreiten, wo sein Schiff vor Anker lag, und sie würden über die Meere segeln in ferne Länder, von denen sie noch nie etwas gehört hatte.
Manchmal, wenn es Eliza gelungen war, sie dazu zu überreden, mit ihr zusammen Geschichten zu erfinden, hatte ihre Mutter
vom Meer erzählt. Denn sie hatte es mit eigenen Augen gesehen und konnte ihre Geschichten mit magischen Geräuschen und Gerüchen untermalen - krachende Brecher und salzige Luft und feiner weißer Sand, ganz anders als die schwarzen Ablagerungen im Flussschlamm. Leider kam es nur selten vor, dass ihre Mutter sich aufs Geschichtenerzählen einließ. Denn im Grunde mochte sie keine Geschichten, schon gar nicht die von Elizas heldenhaftem Vater. »Du musst lernen, zwischen Märchen und Wahrheit zu unterscheiden, Liebes«, sagte sie immer wieder. »Märchen haben die Angewohnheit, zu früh zu enden. Man erfährt nie, was hinterher geschieht, nachdem der Prinz und die Prinzessin glücklich entschwunden sind.«
»Was meinst du damit, Mama?«, fragte Eliza.
»Was geschieht mit ihnen, wenn sie sich in der Welt zurechtfinden müssen? Wenn sie Geld verdienen und sich den Fährnissen des Lebens stellen müssen?«
Eliza konnte das nicht verstehen. Die Frage kam ihr albern vor, auch wenn sie das ihrer Mutter nicht sagte. Es ging um Prinzen und Prinzessinnen, die brauchten sich nicht in der Welt zurechtzufinden, die mussten bloß bis in ihr Zauberschloss gelangen.
»Du darfst nicht darauf warten, dass jemand kommt, um dich zu retten«, fuhr ihre Mutter dann fort, den Blick in die Ferne gerichtet. »Ein Mädchen, das auf einen Retter wartet, lernt nicht, auf eigenen Füßen zu stehen. Selbst wenn es die Mittel hat, fehlt ihm der Mut. So darfst du nicht werden, Eliza. Du musst den Mut finden, für dich selbst zu sorgen, du darfst dich nicht auf andere verlassen.«
Allein in ihrem Dachzimmer, kochend vor Wut auf Mrs Swindell und voller Zorn über ihre eigene Machtlosigkeit, kletterte Eliza in den unbenutzten offenen Kamin. Vorsichtig, ganz langsam, machte sie sich so lang, wie sie konnte, ertastete den losen Ziegelstein und zog ihn heraus. In der kleinen Nische dahinter
berührten ihre Finger den vertrauten Deckel des kleinen tönernen Senfkrugs, seine kühle Oberfläche und die abgerundeten Ecken. Darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu machen, das durch den Kamin nach unten und an Mrs Swindells Ohren dringen konnte, nahm sie den Krug aus seinem Versteck.
Der Krug hatte ihrer Mutter gehört, und er war jahrelang ihr Geheimnis gewesen. Wenige Tage vor ihrem Tod hatte sie Eliza in einem ihrer seltenen wachen Momente von dem Versteck erzählt und sie gebeten, ihr zu bringen, was sich darin befand. Eliza hatte ihr den Tonkrug ans Bett gebracht, voller Verwunderung über den rätselhaften, geheimen Gegenstand.
Vor Aufregung kribbelten Eliza die
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