Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Nathaniel Walker - der Nathaniel Walker, der die königliche Familie porträtiert
hatte, der Künstler, dem in der Tate Gallery ein Extrasaal gewidmet war. Und er war Cassandras Urgroßvater.
Nein, die Wahrheit war, genauso wie am Nachmittag, als sie sie entdeckt hatte, immer noch ein Brocken, der sich kaum schlucken ließ. Sie hatte auf einer Bank am Themseufer gesessen und Nells fast unleserlichen Bericht über den Tag entziffert, an dem sie zuerst das Haus in Battersea aufgesucht hatte, in dem Eliza Makepeace geboren war, und anschließend in die Tate Gallery gegangen war, wo die Porträts von Nathaniel Walker hingen. Nach einer Weile war von der Themse her Wind aufgekommen, und Cassandra war drauf und dran gewesen, ihren Platz auf der Bank aufzugeben, als ihr Blick auf ein paar dick unterstrichene Zeilen auf der nächsten Seite des Hefts gefallen war. Dort stand: Rose Mountrachet war meine Mutter. Ich erkenne sie auf dem Port rät und ich erinnere mich an sie . Dann ein Pfeil zu einem Buchtitel, Who was who , unter dem einige Bemerkungen aufgelistet waren:
• Rose Mountrachet hat den Maler Nathaniel Walker 1907 geheiratet
• eine Tochter! Ivory Walker (geboren 1909) (wg. Scharlach nachforschen)
• Rose und Nathaniel beide 1913 bei einem Zugunglück in Ais Gill, Schottland, ums Leben gekommen (dasselbe Jahr, in dem ich verschwunden bin. Zusammenhang?)
Hinten in dem Heft steckte ein zusammengefaltetes Blatt Papier, eine Fotokopie aus einem Buch mit dem Titel Schwere Eisenbahnunfälle im Zeitalter der Dampflokomotiven . Cassandra nahm die Kopie aus ihrer Tasche und glättete sie auf dem Tisch. Das Papier war dünn und der Druck verblasst, aber es hatte zum Glück keine Schimmelflecken wie der Rest des Notizhefts. Die Überschrift oben auf der Seite lautete: »Die Eisenbahntragödie
von Ais Gill«. Umgeben von anheimelndem Stimmengemurmel im Restaurant las Cassandra den knappen, aber leidenschaftlichen Bericht noch einmal durch.
In den frühen Morgenstunden des 1. September 1913 rollten zwei Züge aus dem Bahnhof Carlisle mit dem Reiseziel St. Pancras, und keiner der Passagiere konnte ahnen, dass er in sein Verderben fuhr. Für die Strecke, die aus den schottischen Tälern steil auf die Pässe hinaufführt, waren die Lokomotiven hoffnungslos zu schwach. Die Summe zweier Faktoren besiegelte schließlich das Schicksal der Züge: Die Lokomotiven verfügten nicht über die notwendige Leistung für die steilen Anstiege und wurden zudem mit minderwertiger Kohle befeuert.
Der erste Zug verließ Carlisle um 1:38 Uhr. Auf dem Weg zum Ais-Gill-Pass ließ der Dampfdruck nach, und der Zug kam zum Stehen. Es ist anzunehmen, dass die Passagiere sich über den Halt so kurz nach der Abfahrt wunderten, aber sie werden sich keine Sorgen gemacht haben. Sie wähnten sich in guten Händen, und der Schaffner hatte ihnen versichert, es bestehe kein Grund zur Beunruhigung, sie würden die Fahrt in wenigen Minuten fortsetzen.
Aber die Überzeugung des Schaffners, dass es sich nur um eine kurze Unterbrechung der Fahrt handelte, war einer der tödlichen Fehler, die in jener Nacht begangen wurden. Normalerweise hätte der Schaffner sich informieren müssen, wie lange der Lokführer und der Heizer noch brauchen würden, den Feuerrost zu reinigen und den Dampfdruck erneut aufzubauen, dann hätte er Zündkapseln abfeuern oder mit einer Laterne ein Stück die Schienen zurückgehen müssen, um nachfolgende Züge zu warnen. Doch das tat er leider nicht, und damit war das Schicksal der Passagiere in jener Nacht besiegelt.
Denn der nachfolgende Zug hatte ebenfalls Schwierigkeiten. Er zog zwar eine leichtere Last, aber die zu schwache Lokomotive und die minderwertige Kohle bereiteten auch diesem Lokführer Probleme. Wenige Meilen vor dem Ais-Gill-Pass, kurz vor Mallerstang, traf der Lokführer die tödliche Entscheidung, während der Fahrt den Führerstand
zu verlassen und bewegliche Teile der Lokomotive abzuschmieren. Ein solches Verhalten mag uns heutzutage als gefährlich erscheinen, doch zu jener Zeit war es gang und gäbe. Während also der Lokführer nicht auf seinem Platz war, wurde zu allem Unglück auch der Heizer mit Schwierigkeiten konfrontiert: Die Injektorpumpe funktionierte nicht, und der Dampfdruck fiel. Nachdem der Lokführer zurückgekehrt war, nahm die Reparatur die beiden Männer so stark in Anspruch, dass sie, als der Zug die Signalstation in Mallerstang passierte, die rote Laterne nicht sahen, die zur ihrer Warnung
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