Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
geschwenkt wurde.
Als sie endlich die Probleme behoben hatten und ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Schienenstrang richteten, war der erste liegen gebliebene Zug nur noch wenige Meter entfernt, und es gab keine Möglichkeit mehr, rechtzeitig zu bremsen. Man kann sich vorstellen, dass der Schaden extrem groß war und die Tragödie unerwartet viele Opfer forderte. Durch den Zusammenprall löste sich eins der Gepäckwagendächer, wurde über die zweite Lokomotive geschleudert und bohrte sich in den Schlafwagen der ersten Klasse. Das Gas der Beleuchtungsanlage entzündete sich, und Feuer breitete sich in den zerstörten Abteilen aus, dem mehrere Passagiere zum Opfer fielen.
Cassandra bekam eine Gänsehaut, als sie sich die Ereignisse in jener Nacht im Jahr 1913 vor Augen führte: Die Fahrt in die steilen Berge hinauf, der Blick aus dem Fenster auf die nächtliche Landschaft, die Verwunderung, als der Zug plötzlich stehen blieb. Sie fragte sich, was Rose und Nathaniel im Augenblick des Zusammenstoßes wohl gerade gemacht hatten. Hatten sie in ihrem Abteil geschlafen oder sich unterhalten? Vielleicht sprachen sie sogar gerade über ihre Tochter Ivory, die zu Hause auf ihre Rückkehr wartete. Voller Mitgefühl faltete sie den Bericht zusammen und schob ihn wieder zurück in das Notizheft. Wie seltsam, dass das Schicksal ihrer Vorfahren, von deren Existenz sie doch gerade erst erfahren hatte, sie so bewegte. Und wie schrecklich musste
es für Nell gewesen sein, ihre Eltern endlich zu finden, nur um sie auf so grausame Weise gleich wieder zu verlieren.
Die Tür des Carluccio’s wurde aufgerissen, und kühle, mit Abgasen vermischte Luft strömte herein. Als Cassandra aufblickte, sah sie Ruby auf sich zukommen, gefolgt von einem hageren Mann mit Glatze.
»Was für ein Nachmittag!« Ruby ließ sich Cassandra gegenüber auf einen Stuhl fallen. »Eine nicht enden wollende Busfahrt. Ich dachte schon, ich komm da nie mehr weg.« Sie zeigte auf den dünnen, gepflegten Mann, der steif hinter ihr stand. »Das ist Grey, er ist unterhaltsamer, als er aussieht.«
»Ruby, Schätzchen, was für eine charmante Art, mich vorzustellen.« Er streckte Cassandra eine weiche Hand entgegen. »Graham Westerman. Ruby hat mir alles über Sie erzählt.«
Cassandra lächelte. Das war eine interessante Vorstellung in Anbetracht der Tatsache, dass sie bisher ganze zwei Stunden mit Ruby zugebracht hatte. Aber falls es irgendjemanden gab, der ein solches Wunder vollbringen konnte, dann war es wahrscheinlich Ruby.
Graham nahm Platz. »Was für ein Glücksfall, ein Haus zu erben.«
»Ganz zu schweigen von dem dazugehörigen Familiengeheimnis.« Ruby winkte einen Kellner heran und bestellte Vorspeisen für sie alle.
Bei der Erwähnung des Familiengeheimnisses zuckte Cassandra zusammen. Ihre neu gewonnenen Erkenntnisse über die Identität von Nells Eltern lagen ihr auf der Zunge, doch das Geheimnis schnürte ihr die Kehle zu.
»Ruby sagt, ihre Ausstellung hat Ihnen gefallen«, bemerkte Grey mit funkelnden Augen.
»Na klar hat sie ihr gefallen, sie ist schließlich ein Mensch«, sagte Ruby. »Und außerdem Künstlerin.«
»Kunsthistorikerin«, korrigierte Cassandra errötend.
»Dad hat mir erzählt, dass Sie tolle Zeichnungen machen. Sie haben ein Kinderbuch illustriert, stimmt’s?«
Cassandra schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab früher mal gezeichnet, aber es war nur ein Hobby.«
»Also, nach allem, was ich gehört hab, war das mehr als ein Hobby. Dad sagt …«
»Als junges Mädchen bin ich immer mit einem Zeichenblock rumgelaufen, aber das ist lange her. Ich hab schon seit Jahren nichts mehr gezeichnet.«
»Hobbys haben es an sich, mit der Zeit verloren zu gehen«, bemerkte Grey diplomatisch. »Ein gutes Beispiel dafür ist Rubys Gott sei Dank nur kurzlebige Begeisterung fürs Tanzen.«
»Ach, Grey, bloß weil du zwei linke Füße hast …«
Während die beiden über Rubys Begeisterung für das Salsatanzen diskutierten, gab Cassandra sich der Erinnerung an jenen viele Jahre zurückliegenden Nachmittag hin, als Nell einen Zeichenblock und eine Schachtel 2B-Bleistifte auf den Tisch gelegt hatte, an dem Cassandra gerade über ihren Mathe-Hausaufgaben brütete.
Damals wohnte sie seit einem Jahr bei ihrer Großmutter, sie war gerade auf die Highschool gekommen, und Freunde zu finden fiel ihr ebenso schwer, wie ihre Gleichungen zu lösen.
»Ich kann nicht zeichnen«, hatte sie verblüfft und verunsichert gesagt.
Unerwartete Geschenke
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