Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
mitfühlendem Ton ließ Cassandra erschauern. Sie wusste, was als Nächstes kommen würde. Ihr Magen zog sich zusammen, und sie suchte nach Worten, um das Thema zu wechseln. Aber sie war nicht schnell genug.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, ein Kind zu verlieren«, sagte Ruby sanft. Ihre Worte durchbrachen die dünne Schutzschicht über Cassandras Trauer, und plötzlich hatte sie Leos Gesicht, sein Kinderlachen vor Augen.
Mit Mühe gelang es ihr zu nicken, ein schwaches Lächeln aufzusetzen
und ihre Erinnerungen zu unterdrücken, als Ruby ihre Hand nahm.
»Nach dem, was mit deinem kleinen Sohn passiert ist, ist es doch kein Wunder, dass du unbedingt rausfinden willst, was deiner Großmutter zugestoßen ist.« Ruby drückte ihre Hand. »Ich finde das vollkommen nachvollziehbar: Du hast ein Kind verloren und jetzt versuchst du, ein anderes wiederzufinden.«
20 London England, 1900
Kaum hatte Eliza sie um die Ecke in die Battersea Bridge Road biegen sehen, wusste sie genau, wer sie waren. Die beiden, eine Alte und eine Junge, waren ihr schon öfter in den Straßen des Viertels aufgefallen, piekfeine Damen, die ihr gutes Werk mit einer Gnadenlosigkeit durchsetzten, als hätte der Herrgott persönlich sie damit beauftragt.
Seit Sammy nicht mehr da war, drohte Mr Swindell dauernd damit, die wohltätigen Damen zu rufen, und ließ keine Gelegenheit aus, Eliza daran zu erinnern, dass sie schon bald im Arbeitshaus landen würde, wenn sie nicht das Geld für zwei aufbrachte. Und obwohl Eliza tat, was sie konnte - sie arbeitete jede freie Minute für Mr Rodin -, schien sie bei der Rattenjagd das Glück verlassen zu haben, und sie geriet von Woche zu Woche weiter in den Rückstand mit der Miete.
Unten klopfte es an der Tür. Eliza erstarrte. Sie schaute sich im Zimmer um, verfluchte den feinen Riss im Mörtel, den verstopften Kamin. In einem fensterlosen Zimmer und vor neugierigen Blicken geschützt zu sein, war gut und schön, wenn man heimlich das Treiben auf der Straße beobachten wollte, aber nicht besonders praktisch, wenn man unverhofft eine Fluchtmöglichkeit brauchte.
Wieder klopfte es. Kurz und trocken, so als sträubte die klopfende Hand sich, die Tür zu einer so armseligen Behausung zu berühren. Dann drang eine schrille Stimme durch die Ziegelwand. »Huhu! Besuch von der Pfarrei!«
Eliza hörte, wie unten die Tür aufging und das Glöckchen darüber bimmelte.
»Ich bin Miss Rodha Sturgeon, und das ist meine Nichte Miss Margaret Sturgeon.«
Dann Mrs Swindell: »Entzückend.«
»Meine Güte, stehen hier viele merkwürdige alte Sachen herum, man kann sich ja kaum um sich selbst drehen.«
Wieder Mrs Swindell, diesmal ziemlich gereizt: »Folgen Sie mir, das Mädchen ist oben. Und passen Sie auf. Wenn Sie was kaputt machen, müssen Sie es bezahlen.«
Schritte, die näher kamen. Die vierte Stufe quietschte, einmal, zweimal, dreimal. Eliza wartete, ihr Herz raste so schnell wie eine von Mr Rodins gefangenen Ratten. Sie sah es regelrecht in ihrer Brust flattern wie eine Flamme bei einem Windstoß.
Dann ging die treulose Tür auf, und die beiden Wohltäterinnen erschienen im Türrahmen.
Die Ältere lächelte, bis ihre Augen fast in ihrem faltigen Gesicht verschwanden. »Wir kommen von der Pfarrgemeinde«, sagte sie freundlich. »Ich bin Miss Rodha Sturgeon, und das ist meine Nichte Miss Margaret Sturgeon.« Sie beugte sich vor, sodass Eliza einen Schritt zurückweichen musste. »Und du musst die kleine Eliza Makepeace sein.«
Eliza antwortete nicht. Nervös fummelte sie an Sammys Kappe, die sie immer noch trug.
Die alte Dame richtete sich auf und ließ den Blick durch das dunkle, feuchte Zimmer wandern. »Meine Güte«, sagte sie und schnalzte mit der Zunge. »Die Beschreibung deiner Misere war nicht übertrieben.« Mit einer Hand fächelte sie sich Luft zu. »Nein, nicht im Geringsten übertrieben.« Sie schob sich an Eliza
vorbei. »Kein Wunder, dass man hier krank wird. Hier gibt es ja nicht mal ein Fenster.«
Mrs Swindell, gekränkt angesichts des vernichtenden Urteils über ihr Dachzimmer, funkelte Eliza zornig an.
Die ältere Miss Sturgeon wandte sich an ihre Nichte, die wie angewurzelt in der Tür stand. »Du solltest dir dein Taschentuch vor den Mund halten, Margaret, bei deiner schwachen Gesundheit.«
Die junge Frau nickte, zog ein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel, faltete es zu einem Dreieck und hielt es sich über Mund und Nase. Dann trat sie vorsichtig ins Zimmer. Erfüllt von
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