Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Mutter Adhiti hinaus auf den Korridor. Es war immer warm und feucht hier unten, wo sich der Tempel hinaus unter die Gebäude und Gassen erstreckte. Im Grunde hatten sie nicht mehr getan, als ein Stück des Untergrundes rings um den Tempel zuzumauern und, so weit es möglich war, mit Licht und Wasser zu versorgen. Als wir die Wendeltreppe erreichten, die in den Hauptteil des Gebäudes hinaufführte, sah ich, dass Mutter Meiko auf der obersten Stufe auf mich wartete. Ihr Gehstock lehnte neben ihr. Sie zog an einer kurzen Stummelpfeife. Heute trug sie statt unserer üblichen farblosen Gewänder das ölbefleckte hellblaue Musselingewand einer Frau der Eimerträger-Kaste.
»Guten Tag, Mutter.« Ich legte meine Waffen nieder und begrüßte sie mit dem Zeichen der Lilie.
»Green.« Sie sog einen Moment geräuschvoll an der Pfeife und hielt sie dann in ihren hohlen Händen. »Mädchen«, fügte sie hinzu.
Ich wartete. Diese Frau war meinetwegen hergekommen. Sie würde mir sagen, warum, wenn sie bereit dazu war.
»Du möchtest mit einer großen Kuh kämpfen, soviel ich gehört habe.«
»Einem Stier, Mutter.«
»Mmm.« Mutter Meiko studierte den schwelenden Inhalt ihres Pfeifenkopfes. »Ein Tier. Sag mir. Was bist du?«
»Eine Anwärterin der Lilienklingen dieses Tempels.«
»Nein. Das bist du nicht.«
Ich war überrascht. »Nichts sonst, Mutter.«
»Wenn du eine Anwärterin meiner Klingen wärst, würdest du in ihrem Schlafraum nächtigen, die Klassen mit den anderen Anwärterinnen besuchen oder dort unterrichten.« Sie beugte sich näher. »Du würdest den Kindern unseres Tempels helfen, statt denen hinterherzuweinen, die das Schicksal fortgeholt hat.«
Mein Wunsch nach einem Ende des Kinderhandels hatte wohl nichts mit Hinterherweinen zu tun, aber darüber wollte ich mit ihr nicht streiten. »Ich bin, was ich bin.«
»Die Göttin hat aufgehört, mit dir zu sprechen.« Das war keine Frage.
»Ja«, gab ich zu. »Ich habe Sie nicht mehr gehört, seit ich mit dem Rest von Mutter Shesturis Trupp gegen die Männer im Park kämpfte.«
»Der Rest von Mutter Shesturis Trupp.« Sie schnaubte. »Du solltest dich reden hören. Du behauptest, du bist eine Anwärterin, in einem Atemzug, und meinst, du seist eine Klinge im nächsten. Aber ich sage dir, was du bist, Green: Du bist weder das eine noch das andere. Du bist ein Mädchen, das nicht wählen will, welchen Weg es einschlagen soll. Du bist gar nichts.«
»Mutter.« Ich senkte meinen Kopf.
Ihre Pfeife klopfte gegen meine Stirn. »Der Monat Vaisakha steht vor der Tür. Du hast deinen fünfzehnten Sommer fast erreicht, bist also alt genug, Tante oder Eheweib zu sein. Oder eine vereidigte Klinge. Komm am Ende des Monats zu mir und sage mir, ob du den Schwur ablegen willst.«
»Andernfalls?«, fragte ich fast flüsternd.
Mutter Meikos Lächeln war kalt. »Andernfalls wird dein Geschick dem Wohlwollen der Göttin anheimgestellt. Frag dich selbst, welche Behandlung du Ihr hast angedeihen lassen, Mädchen. Frag dich selbst, was du dafür von Ihr erwarten darfst.«
Ich wurde daran erinnert, dass sie die Klingenmutter war, die über uns allen stand. Sie konnte ebenso leicht töten, wie sie die Tage der Woche zählen konnte, und mit ebenso wenigen Gewissensbissen. Mich aus dem Tempel der Silbernen Lilie auszustoßen war ein Leichtes für sie, und auf eine seltsame Art und Weise wäre es sogar passend. Schließlich war sie es gewesen, die mich in den Tempel eingeladen hatte.
An diesem Abend gab ich mich ganz meiner Verbitterung hin. Ich werde es ihnen zeigen! Ich konnte die Kinder aus den Klauen der Bettlerkaste befreien, ich konnte in den Hafen gehen und die korruptesten Kapitäne zur Rede stellen, auf den spitzen Dächern dieser Stadt nach einem so schrecklichen Verbrechen Ausschau halten, dass mein Eingreifen dem Tempel unbestreitbares Ansehen bringen würde und mir eine süße Rache für meine Zurückweisung. Oder ich konnte auch einfach in der Nacht verschwinden und sie den quälenden Fragen überlassen, wo sie mir Unrecht getan hatten und was wohl aus mir geworden war.
Am Ende tat ich, was ich in diesen Tagen immer tat. Ich schlüpfte in mein Kostüm und verließ den Tempel durch eine Seitentür. Manchmal ging es mir bei meinen Ausflügen in den Hafen mehr ums Trinken, denn ums Zuhören.
Das war eine dieser Nächte.
Mir blieb ein Monat, um mich zu entscheiden, deshalb vermied ich es in den nächsten Wochen, über das Problem nachzudenken. Meine Tage und Nächte
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