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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Tieres«, verkündete Mutter Vistha »So wie man einem Vogel das Reden beibringt, so hat jemand dieses hier unterrichtet.« Sie starrte mich wütend an. »Wie konntest du?«
    »Weshalb seid ihr hier?«, fragte ich hitzig die Mütter. Sicherlich waren sie nicht die Treppen herabgestiegen, um mich zu schikanieren.
    Ein geringer Teil des Zorns verschwand aus Mutter Visthas Gesicht. »Um euch vor die Versammlung der Mütter zu bringen.«
    Mutter Argais Armbrust schwankte ein wenig, während sie sprach. »Die Straßengilde und der Rohrdommelhof erheben beide Anklage. Einer der Toten ist aus höherem Haus.«
    »Dein kleines Abenteuer war völlig fehl am Platz«, erklärte Mutter Vistha. »Wir hätten dir deine Verkleidung vom ersten Tag an verbieten sollen.«
    Ich erkannte, dass ich mich als Klinge nur zu gut bewährt hatte. Die Patrouillen sollten mich in Verlegenheit bringen und bei den vereidigten Frauen unbeliebt machen. Das Gegenteil war der Fall gewesen.
    »Green.« Die Stimme der Tanzmistress klang belegt und schwer.
    »Sie sind gekommen, um uns nach oben zu geleiten«, erklärte ich ihr. »Zu einer Anhörung vor den Müttern des Tempels der Silbernen Lilie. Ich weiß nicht, wie das ausgehen wird.«
    »Werden sie uns töten?«
    »Wahrscheinlich nicht.« Zumindest nicht mich. Ich wollte, ich könnte mehr sagen als wahrscheinlich. »Ich werde mich ankleiden.«
    »Nein«, unterbrach mich Mutter Vistha. »Nicht mit deinem lächerlichen Kostüm.« Sie warf mir das helle, farblose Musselingewand einer Anwärterin zu.
    Ich zog es direkt über meine nackte Haut.
    »Braucht dein Tier ein Halsband?«, fragte Mutter Argai anzüglich.
    Ich wartete, bis mein Ärger verraucht war und sie meine Worte hören konnte. »Nicht mehr als du.«
    Ihr Gesicht spannte sich, aber der Finger am Abzug der Armbrust blieb ruhig.
    Die Tanzmistress raffte ihre zerrissene und verschmutzte Toga zusammen und folgte mir hinaus. Mutter Vistha schritt vor uns her die Treppen empor, und die bewaffneten Mütter folgten.
    Wir begaben uns nicht in den kleinen Raum ganz oben im Tempel, wie ich erwartet hatte. Ich dachte, ich würde den inneren Rat wiedersehen: Mutter Vajpai und Mutter Meiko und dazu Mutter Vistha und ein oder zwei andere ranghohe Mütter.
    Stattdessen betraten wir das Allerheiligste. Am Mittwochnachmittag fanden hier keine Gottesdienste statt, dennoch hatten sich die Bankreihen fast ganz gefüllt. Mütter in den Gewändern und Schärpen aller Tempelorden waren anwesend, ebenso eine Anzahl Frauen von außerhalb. Ich sah viele in den Farben der Ehefrauen der Straßengilde oder des Rohrdommelhofes.
    Natürlich der Rohrdommelhof. Ich hatte denen einen bösen Streich gespielt, als ich nach dem Tod Currys den Schlüssel in den Hafen warf. Wer immer diesen Mord eingefädelt hatte, sah jetzt seine Gelegenheit, es mir heimzuzahlen.
    »Man will an uns ein Exempel statuieren«, flüsterte ich der Tanzmistress zu.
    »Was du nicht sagst.«
    Verzweifelt über ihr Schicksal schwieg ich. Es gab wenig, das ich ihr sagen konnte, außer es kam der Zeitpunkt, da ich ihr eine Rede oder einen Aufruf übersetzen musste. Oder das Urteil.
    Die Tempelmutter wartete vor dem Altar im Zentrum des heiligen Kreises. Die Frau in dieser Rolle war immer die älteste Mutter der Priesterinnen, doch sie wurde von der Mutter Justiziar, der Klingenmutter und einigen anderen aus den Heilungs- und Unterrichtsorden beraten. Ich hatte nie viel mit der Tempelmutter zu tun gehabt. Sie war im Alter blass geworden. Ihr Name war Mutter Umaavani, doch ich kannte niemanden außer Mutter Meiko, der sie so nannte.
    Heute ruhte der Blick dieser blassen Augen auf mir, während ich zwischen den Bankreihen nach unten schritt. Die Tanzmistress folgte mir mit einem halben Schritt Abstand. Das Kribbeln in meinem Rücken verriet mir, dass Mutter Argai mit ihrer Armbrust noch immer auf der obersten Bankreihe stand, und vermutlich alle anderen Mitglieder des improvisierten Trupps, mit dem uns Mutter Vistha abgeholt hatte.
    Es war ein seltsames Gefühl, von dieser alten Frau gemustert zu werden, die sich normalerweise nur um den Altar und den Ablauf der Gebete kümmerte. Das war in der Tat eine Anhörung und kein Gottesdienst. Es gab keine Räuchergefäße, keine Glocken, keine eifrigen priesterlichen Anwärterinnen.
    Nur eine sehr ungehaltene Tempelmutter, mich und die Frau, die sowohl meine älteste Lehrerin als auch meine jüngste Geliebte war. Ich erwiderte den Blick so grimmig, ich es vermochte.

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